Regionalliga Nordrhein
Das Comeback des Jahres: „MH 32“ ist wieder da
Diese Geschichte sorgt für eine Gänsehaut. Der Linksaußen des HC Weiden erlitt im Februar einen Genickbruch, dachte aber nicht ans Aufgeben.

Angstfrei: Marcel Habisch (links) stürzt sich mittlerweile in jeden Zweikampf – wie früher. Ab und an kann es dann schon mal ein Teamkollege sein. (Fotos: Herbert Mölleken)

Es ist der Tag, den Marcel Habisch niemals in seinem Leben vergessen wird. Am Wochenende vorher gewinnt er noch mit seinem HC Weiden 2018 das Spitzenspiel der Oberliga gegen den TuS Derschlag. Beim 28:26-Erfolg erzielt er vier Tore – jene zum 14:13, 17:15, 21:19 und 25:23. Wichtige sind es in diesem Spiel, denn sie halten seine Mannschaft auf Kurs. Es ist sogar der Erfolg, der die Meisterschaft entscheidet: Weiden hat später 45:7 Punkte und Derschlag 41:11. Dann kommt der 15. Februar 2019. Und plötzlich wirkt jeder Treffer lächerlich-belanglos. Der 26 Jahre alte Linksaußen hilft bei Baumfäll-Arbeiten. Alles scheint gut vorbereitet zu sein. Und trotzdem geht etwas schief. Marcel Habisch fasst es in sechs Worte: „Ich wurde von einem Baum erschlagen.“ Als er Sekunden darauf am Boden liegt, ist ihm sofort klar, dass etwas Ernstes passiert sein muss: „Das ist gar nicht gut.“ Alle, die ihm sofort helfen wollen, weist er energisch zurück. Sie sollen ihn nicht anrühren. Habisch hat die Situation richtig erfasst: Im Krankenhaus diagnostizieren sie eine Verletzung der Halswirbelsäule – der 5. Wirbel ist gebrochen.

Es folgt zunächst eine Not-Operation. Niemand vermag hinterher zu sagen, wie stark der Handballer eingeschränkt sein wird. Dass er irgendwann mal wieder Handball spielt, halten viele für ausgeschlossen bis unwahrscheinlich. Für einen gilt das aber ganz und gar nicht: Habisch beschließt, auf das Feld zurückzukehren – wann auch immer. Es wird die Politik der kleinen Schritte, die doch so viel größer sind. Erste Etappe: „Ich will die Jungs sehen.“ Es passiert bereits am 23. Februar, als Marcel Habisch die Partie gegen die HSG Refrath/Hand besucht. Seine Freunde im Verein haben ihm einen Drehstuhl besorgt, weil er den in eine dicke Krause eingebetteten Hals selbst nicht drehen kann. Habisch sitzt in einem besonders geschützten Bereich, sodass kein Ball auf ihn zufliegt – dem er ja nicht ausweichen könnte. Die Emotionen verleihen ihm noch einmal Flügel. „Handball ist eine und meine Familie“, meint Habisch, der unzählige Nachrichten aufs Smartphone und Genesungswünsche über alle möglichen Kanäle bekommt: „Ich konnte gar nicht alle beantworten.“

In einer Operation werden ihm an vier Wirbeln Verstrebungen nach beiden Seiten und Schrauben eingesetzt, um die Wirbelsäule zu stabilisieren. Der Eingriff, an den immer noch eine Menge Metall und eine lange Narbe auf dem Rücken erinnern, ist erfolgreich. Marcel Habisch weiß, dass er sich gedulden muss. Weil er aber beschlossen hat, den Kampf einzugehen, macht er sich an die Arbeit und sieht Fortschritte. Anfang Mai ist er so weit, dass er mit einem speziell für ihn maßgeschneiderten Reha-Training loslegen kann. Eine feste Begleiterin auf dem Weg zurück ist seine Physiotherapeutin Theresa Sienz, die in diesen Wochen und Monaten weit mehr als das Normale leistet. „Ich bin ihr unendlich dankbar“, betont Marcel Habisch, „sie hat für mich viel von ihrer Freizeit geopfert.“ Der Handballer erreicht ein nächstes Ziel: 4. Mai 2019, letztes Saisonspiel. Gegner ist der SC Fortuna Köln.

Ballgefühl: Den Umgang mit seinem Lieblings-Sportgerät hat Marcel Habisch nicht verlernt.

Es ist kurz vor 19 Uhr. Weiden, das als Aufsteiger in die Regionalliga feststeht, führt knapp drei Minuten vor dem Ende uneinholbar mit 29:23. Am Sieg ist nicht mehr zu rütteln und der Schiedsrichter hat gerade einen Siebenmeter für die Hausherren gegeben. Es kommt das Zeichen: Du bist dran. Marcel Habisch soll den Strafwurf ausführen. Jeder in der Halle fühlt plötzlich eine Gänsehaut. Und dem Spieler kommen die paar Meter vor wie ein Marathon: „Ich dachte, der Weg von der Bank zum Siebenmeterpunkt hört nie auf. Das hat ewig gedauert.“ Die Zuschauer stehen auf und feiern diesen Moment mit. Habisch muss selbst ein paar Monate später schlucken: „Mir sind die Tränen gekommen. Ich konnte sie einfach nicht mehr zurückhalten.“ Das ist bestimmt der Grund dafür, dass er den Siebenmeter verwirft – was ihn trotzdem ärgert, obwohl sich daran niemand lange aufhält.

Über Pfingsten feiert der künftige Regionalligist die Erfolge der vergangenen Saison bei der Mannschafts-Tour nach Mallorca. Klar: Habisch ist dabei. Anschließend beginnen für die anderen die Handball-Ferien – nicht jedoch für Marcel, der weiter für sein Comeback schuftet: „Für mich geht es erst richtig los.“ Immer wieder überprüfen der Spieler, die Ärzte und seine Physiotherapeutin den Stand der Dinge. Wann darf er es probieren? Darf er es überhaupt wieder probieren? Zuerst startet das Handball-Programm mit deutlich angezogener Handbremse. Körperkontakt? Verboten. Sprungwurf? Geht nicht. Marcel Habisch fühlt sich trotzdem gut. Dann darf er wieder am Mannschafts-Training teilnehmen.

Wie früher: Marcel Habisch weiß, dass auch nach seinem Comeback jedes Spiel eine Zerreißprobe sein kann – selbst für einen Abwehrspieler.

Das Wunder wird am 10. August wahr. Der HC Weiden nimmt am „Pirates-Cup“ des Drittligisten Leichlinger TV teil. Marcel Habisch steht im Aufgebot und wenig später auf, um sich einsatzbereit zu machen. Dass der HC zum Auftakt gegen den Regionalliga-Absteiger HG Remscheid gewinnt (15:13), passt diesmal ziemlich großartig. Später folgen Niederlagen gegen Leichlingen (16:21) und den Regionalligisten SG Langenfeld (19:26) sowie im Viertelfinale ein Erfolg über den alten Oberliga-Rivalen HSG Refrath/Hand (12:10), ehe die Leichlinger im Halbfinale erneut die Oberhand behalten (7:17).

Marcel Habisch hat keine Angst vor Zweikämpfen gehabt und jede Sekunde genossen. „Ich werde immer mehr machen müssen als andere, um bestimmte Muskelpartien zu kräftigen“, weiß der Linksaußen. Trotzdem ist er heilfroh, dass die Zeit des Allein-Trainierens an Geräten oder bei Ausdauer-Läufen seit einiger Zeit vorbei ist: „Ich brauche den Kontakt mit Menschen und den Austausch. Außerdem bin ich bei uns so etwas wie der Pausenclown.“ Dass er beruflich vor Kurzem eine neue Stelle antreten konnte, rundet die aktuelle Lage beim Spieler mit der Rückennummer 32 ab. Freunde haben für Marcel Habisch den Titel „MH 32“ erfunden. Der richtet seinen Blick direkt wieder auf den Sport: „Unser Ziel in der neuen Saison ist der Klassenerhalt.“ Wie das Abenteuer sportlich ausgeht, weiß derzeit noch niemand. Ein anderes hat Habisch gerade bestanden. „Ich bin ein glücklicher Mensch“, sagt er ein halbes Jahr nach seinem schweren Unfall. Das Drama vom 15. Februar, das Habisch nie vergessen wird, hat ein Happy End. Kurz zusammengefasst: MH 32 ist wieder da.