Harz beiseite
Deckarm und Brand: Der Mythos VfL Gummersbach lebt
Das Spiel der 2. Bundesliga zwischen dem VfL und der HSG Krefeld ist auch ein Duell zwischen Tradition und Neuzeit.

Die Legende zu Besuch: Joachim Deckarm ist Stammgast in der Schwalbe-Arena. (Foto: Thomas Schmidt).

Es ist verdammt lang her. Rund 40 Jahre. Trotzdem scheint es erst gestern gewesen zu sein und der Mythos lebt. Heiner Brand ist damals der Kapitän und Ort des Geschehens die natürlich ausverkaufte Westfalenhalle – ein Handball-Tempel. Es ist für dieses Finale mal wieder die Heimat des VfL Gummersbach. Und der VfL mit seiner Weltklasse-Mannschaft, zu der unter anderem die Rückraumspieler Erhard Wunderlich und Joachim Deckarm gehören, gewinnt an diesem 4. Mai 1978 mit Trainer Zlatan Siric den Europapokal der Landesmeister durch ein 15:13 gegen RK Zeleznicar Nis aus dem einstigen Jugoslawien. Wer dabei war, wird noch heute eine Gänsehaut bekommen. Der VfL begründet in jener Zeit seinen Ruf als einer der größten Vereine der Welt und auf jeden Fall als der größte der Region. Mehr Tradition geht nicht. Was davon geblieben ist? 1991 wird der VfL zum zwölften Mal Deutscher Meister und 2011 holt er erneut den Europapokal der Pokalsieger. Es wird auf absehbare Zeit der letzte nationale oder gar internationale Titel sein. Am Ende der Saison 2018/2019 erwischt den über die Jahre immer wieder von wirtschaftlichen Problemen geplagten Klub der Super-Gau: Die erste Mannschaft muss nach einem dramatischen Saisonfinale zum ersten Mal in die 2. Liga absteigen. Tradition alleine hat es also doch nicht geschafft, die zur Rettung erforderlichen Tore zu erzielen.

Jetzt ist Samstag, 19. Oktober 2019. Wir machen uns auf den Weg in die Schwalbe-Arena, die es vor vier Jahrzehnten natürlich noch nicht gab. Der Unterschied ist krass – auch weil ein Gegner der besonderen Art da ist. Tradition? Schwierig bei einer Handball-Spiel-Gemeinschaft wie der HSG Krefeld, die erst seit 2013 besteht. Damals taten sich DJK SV Adler Königshof 1919 und SC Bayer 05 Uerdingen zusammen, um Kräfte für die 3. Liga zu bündeln. Der Plan ging dann am Ende der Serie 2018/2019 so gut auf, dass die Mannschaft unter der Federführung von Ronny Rogawska als Trainer Meister der 3. Liga wurde und sich anschließend in dramatischen Qualifikationsspielen gegen Empor Rostock durchsetzte und den Sprung in die 2. Liga schaffte. Dort kommt es plötzlich zum Duell Alt gegen Neu, zwischen fixer Größe und aufstrebenden Außenseitern – die bisher das Maß vieler Dinge in der tieferen Klasse waren.

Die Anfahrt zur Halle ist ein bisschen kompliziert, weil eine der üblichen Haupt-Zufahrtsstraßen gesperrt ist. Trotzdem ist von Weitem zu spüren, dass in der Gegend eine besondere Atmosphäre herrscht. Das hat definitiv ganz viel mit der Halle zu tun, denn sie steht auf dem Heiner-Brand-Platz. Die Stadt und der Verein ehren damit einen der berühmtesten Söhne der Stadt, der noch heute eng mit „seinem VfL“ verbunden und Stammgast bei Heimspielen ist. Später werden wir Brand auch im Inneren begegnen. Natürlich hat er freien Zugang zum VIP-Bereich und es kommt niemand auf die Idee, ihn nach einem Ausweis oder einer sonstigen Berechtigung zu fragen, sich dort aufzuhalten. Brand kommt keinen Meter voran, ohne dass ihn jemand nach seiner Meinung zu diesem und jenem fragt.

Der das Sagen hat: VfL-Trainer Torge Greve weiß, dass auf der Bank die Gummersbacher Zukunft sitzt – Spieler wie Yonathan Dayan (Nummer 4), Pierre Busch (rechts) und Jonas Stüber. (Foto: Thomas Schmidt)

Fragen ist eine wichtige Tugend für Handball-Fans, die sich in der Schwalbe-Arena nicht so gut auskennen. Wer sich anstellt, um eine Brezel oder andere Kleinigkeiten im Bereich Catering zu erwerben, staunt: Das Bezahlen mit Bargeld haben sie in Gummersbach abgeschafft. Stattdessen soll jeder eine aufladbare Fankarte erwerben und mit dem darauf befindlichen Guthaben das Ausgesuchte bezahlen. Wir verzichten lieber. Und hilfreich wäre es gewesen, das Verfahren irgendwie offener darzustellen. Oder vielleicht wäre sogar weniger mehr gewesen – wie bei der Lautstärke der Hallen-Ansagen, die bisweilen kaum zu verstehen sind. Auch da gilt: Wer beim VfL ein- und ausgeht, bekommt alles vermutlich mit. Er kennt ja seine Helden sowieso. Für andere bringt es so nichts.

2725 Zuschauer sind es am Ende, die dem Duell mit dem Klassen-Neuling einen passenden Rahmen geben. Für eine Partie des durchaus nicht begeisternd gestarteten VfL gegen bisher meist chancenlose Krefelder ist die Kulisse sehr anständig – und die Gummersbacher Fans zeigen anschließend, dass sie immer noch beziehungsweise wieder ohne Einschränkung hinter ihrer Mannschaft stehen. In diesem Punkt hätte es der ehemalige Deutsche Rekordmeister vermutlich verdient, umgehend in die höchste deutsche Klasse zurückzukehren. Gefühlt halten sie das im Oberbergischen sowieso für selbstverständlich.

Das Spiel selbst ist von der ersten Sekunde an sehr einseitig, weil das Team von VfL-Trainer Torge Greve die Angelegenheit sehr ernst nimmt und das von HSG-Coach Arnar Gunnarsson einen ziemlich abwesenden Eindruck macht. In den Auszeiten haben wir zusätzlich Gelegenheit, die Atmosphäre in der Halle aufzunehmen. Und plötzlich stockt dir beim Blick nach rechts der Atem: Unten sitzt direkt am Spielfeldrand Joachim Deckarm – unser Held von einst, der 1978 mit Gummersbach das Europapokalfinale gewonnen hat und mit Deutschland den Weltmeister-Titel holt. Bis zum 30. März 1979 ist „Jo“ Deckarm der beste Handballer der Welt – bis zu jenem schrecklichen Unfall im Europapokalspiel in Tatabanya (Ungarn). Der Rückraumspieler knallt nach einem Zusammenprall unkontrolliert auf den Betonboden und erleidet ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Nach mehr als vier Monaten im Koma wacht Deckarm wieder auf und er beginnt den langen Kampf zurück ins Leben. Der ehemalige Hochleistungssportler, der aus Saarbrücken stammt, lebt seit 2018 (wieder) in Gummersbach. Und klar: In die Schwalbe-Arena zieht es ihn immer, wenn der VfL spielt. Wie er da in seinem Rollstuhl sitzt und das Geschehen aufmerksam verfolgt: Es wirkt so selbstverständlich.

Noch der beste Krefelder: Kevin Christopher Brüren erzielte immerhin sieben Tore in Gummersbach. (Foto: Thomas Schmidt)

Was er diesmal sieht, sind in allen Belangen überlegene Gummersbacher, die sehr früh den Grundstein zum Erfolg legen, selbst nach der Pause kaum in den kleineren Gang schalten und den Kontrahenten beim 36:19 (16:7) deklassieren. „Wir haben das von der ersten bis zur letzten Minute durchgezogen“, sagt Trainer Greve, „ich hoffe, dass das jetzt der Start für eine neue Serie sein kann.“ Der Auftritt der zweiten Halbzeit macht übrigens klar, was einer der Unterschiede zwischen gestern und heute ist. Sicher: Es gibt herausragende Kräfte wie den bärenstarken Torhüter Matthias „Matze“ Puhle. Richtige Starspieler aus der Kategorie Brand und Deckarm hat der VfL allerdings nicht. Dafür stehen in der zweiten Reihe einige vielversprechende Talente, die nach der Pause ihre Einsatzzeiten bekommen. Sogar von Beginn an dabei ist Kreisläufer Jonas Stüber, dessen persönliche Statistik insgesamt auf fünf Treffer kommt. Bemerkenswert: Keine 24 Stunden vorher hat der 20-Jährige bereits für die U 23 des VfL auf dem Feld gestanden, die das Kellerduell in der 3. Liga beim Leichlinger TV vor 300 Zuschauern mit 27:26 gewinnt. Stüber steuert neun Treffer bei und zeigt am Tag darauf, warum er ein heißer Kandidat für eine vielversprechende Karriere ist. Ebenfalls zum Einsatz kommen Malte Meinhardt (3 Tore) und Yonatan Dogan (1), die zusammen mit Stüber in Leichlingen gewinnen.

Den Auftritt des VfL 2019 beobachten viele, die in der Gegend mit Handball zu tun haben – wie etwa Ralph Weinheimer, der Trainer des Oberligisten TuS Derschlag. Er ist unter anderem da, um sich Felix Jaeger anzuschauen – jenen Rückraumspieler, der sich vor ein paar Wochen kurzfristig entschloss, aus Derschlag lieber nach Krefeld zu wechseln und dort seine Chance in der 2. Liga zu suchen. Viel gibt es jedoch nicht zu sehen, denn der 22-Jährige bekommt erst nur einen Mini-Einsatz und dann in den letzten zehn Minuten beim Stande von 13:24 die nächste Gelegenheit, praktische Zweitliga-Atmosphäre aufzunehmen. Das Urteil seines Trainers ist nicht in erster Linie auf ihn, sondern auf die gesamte Mannschaft der HSG gemünzt: „In der ersten Halbzeit kämpfen wir nicht einmal, wir spielen ohne Foul und ohne Gelbe Karte. In der zweiten Halbzeit ist es ein bisschen besser – aber immer noch zu wenig.“ Bis auf Kevin Christopher Brüren (sieben Treffer) hat die HSG an diesem Oktober-Abend niemanden, der mutig auftritt. Angesichts der Leistung in der Schwalbe-Arena, der bisher erreichten 2:16 Punkte und der drei Zähler Abstand zum rettenden Ufer ist es schwer vorstellbar, dass die „Neuen“ aus Krefeld die Klasse halten werden.

Was aus dem „neuen alten“ VfL wird? Im Jahr eins nach dem Abstieg ist er mit 11:7 Punkten als Fünfter wenigstens in Sichtweite zu den Spitzenteams Eisenach, Essen oder Coburg. In den weiteren 25 Partien der Saison wird sich zeigen, ob sie in Gummersbach den Traum von der Rückkehr in die 1. Liga verwirklichen können und ob Tradition wirklich genug Tore wirft. Die Gummersbacher Legenden Heiner Brand und Joachim Deckarm werden es bestimmt besonders intensiv verfolgen. Damit ist klar: Das von vor 40 Jahren ist weiter gegenwärtig. Der Mythos lebt.