24. Januar 2020 | Zurück zur Artikelübersicht » |
Der Amateurpokal ist immer auch ein bisschen Erdkunde-Unterricht. Als der Deutsche Handball-Bund kurz vor Weihnachten die Paarungen fürs Achtelfinale ausgelost wurden, dürfte es viele Fragezeichen gegeben haben. Klar: Der TuS Derschlag aus der Oberliga Mittelrhein und die SG Langenfeld aus der Regionalliga Nordrhein hatten schon voneinander gehört – zumal sich die Trainer Ralph Weinheimer (TuS) und Markus Becker gut kennen. Aber Breitungen und Loxten? Es waren einige Erkundigungen erforderlich, um halbwegs auf dem Stand der Dinge zu sein. Das galt im Umkehrschluss genauso für die Sportfreunde Loxten aus der Oberliga Westfalen und die HSG Werratal aus Thüringen, die jetzt ebenfalls Neuland betreten. Alle vier haben aber definitiv eins gemeinsam: Hamburg ruft. Beim 4. und 5. April 2020 haben alle ein dickes rotes Kreuz in den Kalender gesetzt. Nach dem Halbfinale in der Sporthalle Wandsbek ziehen die beiden Sieger für den folgenden Tag um in die große Barclaycard-Arena, wo sie ihr großes Finale vor dem Endspiel der Profis austragen. Das Achtelfinale ist der erste Schritt auf dem Weg zum Traumziel und es scheint offen zu sein, ob es eines der beiden Teams aus dem Harzhelden-Gebiet schafft: Die Konkurrenz ist stark. Der TuS Derschlag, Gewinner des Mittelrheinpokals, erwartet am Samstag um 18 Uhr in der Halle der Gesamtschule die HSG Werratal, während Langenfeld am Samstag um 19 Uhr in der Halle am Konrad-Adenauer-Gymnasium auf die Sportfreunde Loxten trifft.
In Derschlag scheinen sich zwei Teams auf Augenhöhe zu begegnen. Und beide sind sehr intensiv darum bemüht, die Vorteile beim jeweils anderen zu sehen. „Wir befinden uns im Umbruch und wir haben eine relativ junge Mannschaft“, sagt Kay Gehri, der Sportliche Leiter und Sprecher der HSG, „auf der anderen Seite ist der Amateurpokal für die Spieler eine Auszeichnung. Wir wollten ihnen die Chance geben, dort zu spielen. Und wir fahren sicher nicht nach Derschlag, um das Spiel abzuschenken.“ Im Werratal können sie wohl sowieso auf eine besondere Art und Weise mit Stress umgehen – was weniger mit dem bisherigen Rang fünf (erst elf Spiele/14:8 Zähler) in der leicht verzerrten Tabelle der Thüringenliga zu tun hat: „Wir haben sicher den einen oder anderen Punkt zu viel abgegeben.“
Das Team von HSG-Trainer Dejan Leskovsek muss zuerst die etwa 380 Kilometer weite Anreise aus Thüringen erledigen, sich dann über mindestens 60 Minuten mit Derschlag beschäftigen – und vielleicht hoffen, dass es nicht etwa zu einer Verlängerung kommt. Absolut wahnwitzig: Der offizielle Spielplan führt für Sonntag um 17 Uhr in der Heimat das Meisterschaftsspiel zwischen der HSG Werratal und dem SV Town&Country Behringen/Sonneborn, der ganz nebenbei mit einem ziemlich blumig klingenden Namen unterwegs ist. Es handelt sich bei der Terminierung auch nicht einen Druckfehler, denn diese Partie soll so tatsächlich stattfinden. Dass eine Verlegung nicht möglich war, findet die HSG nicht richtig gut, ändert aber nichts am Pokal-Ehrgeiz: „Wir ziehen das jetzt durch.“ Werratal will alles in die Waagschale werfen und sich anschließend auf die Heimreise begeben, die erst mitten in der Nacht zu Sonntag erledigt sein kann. Klar: Mit einem Pokal-Erfolg wäre der Gewaltakt viel einfacher zu ertragen.
Dem wollen logischerweise die Derschlager am liebsten einen Riegel vorschieben, die grundsätzliche in einer ähnlichen Klasse wie die Gäste zu Hause sind. Die Thüringenliga ist die 5. Klasse hinter der Bundesliga, der 2. Liga, der 3. Liga und der Mitteldeutschen Oberliga, während die Oberliga Mittelrhein hinter den drei Top-Klassen und der Regionalliga Nordrhein folgt. TuS-Coach Ralph Weinheimer und sein Team freuen sich riesig auf das Duell: „Das ist ein Highlight und oben steht immerhin DHB drüber. Und es sind ja tatsächlich nur zwei Siege bis Hamburg. Wir müssen aber schon einen sehr guten Tag erwischen, um gegen die internationale Auswahl der HSG bestehen zu können. Die Zuschauer müssen uns helfen, das Paket aus Abwehr und Torhüter muss stimmen.“ Sein Wunsch: Es möge eine packende Partie werden, die Werbung für den Handball macht. Wenn später als Sieger auf dem Spielbericht noch TuS Derschlag steht, hätte er natürlich nichts dagegen.
Zumindest in der Theorie findet das Achtelfinale zwischen Langenfeld und Loxten eine Etage höher statt. Die Regionalliga Nordrhein mit der SGL ist im Westdeutschen Handball-Verband ebenso die 4. Liga wie die Oberliga Westfalen – weil es dort keine Regionalliga gibt, die vor einigen Jahren ja nur die jeweils sechs besten Team aus den Oberligen Mittelrhein und Niederrhein zusammenführen sollte. Vorteil für die SGL: Sie weiß seit der Saison 2015/2016 am besten, wie der Deutsche Amateurpokal funktioniert. Damals erlebte die SGL die erfolgreichste Saison ihrer Vereinsgeschichte, in der sie den Niederrheinpokal gewann, den Aufstieg in die 3. Liga schaffte und parallel dazu im Amateurpokal für Furore sorgte. Die abenteuerliche Fahrt führte seinerzeit ins Endspiel, das mit dem 29:25 über den HC Glauchau-Meerane aus der Mitteldeutschen Oberliga vor 3000 Zuschauern in Hamburg ein unvergessenes Erlebnis brachte. Aus dem heutigen Kader waren unter anderem Kapitän Vinzenz Preissegger und Regisseur André Moser dabei. Ebenfalls auf den möglichen Kurs Richtung Hamburg freut sich inzwischen SGL-Coach Markus Becker, der bisher wegen der enormen Zusatzbelastung nicht als ausgewiesener Freund der Pokalwettbewerbe galt: „Wir sind heiß.“
Größtes Problem: Die Sportfreunde Loxten gelten sportlich als eins der höchsten möglichen Hindernisse im Viertelfinale. „Die sind schon richtig, richtig gut“, findet Becker, der aufgrund seiner Recherchen viel Respekt vor dem Kontrahenten hat: „Loxten hat einen breiten Fundus an Spielzügen und eine sehr massive Abwehr. Für mich ist das ein künftiger Drittligist.“ Der Saisonverlauf spricht zumindest nicht gegen diese Einschätzung, denn mit 22:4 Punkten liegen die Sportfreunde auf Platz zwei. Die beiden Niederlagen passierten auswärts und waren extrem knapp – 28:29 beim Ersten ASV Hamm-Westfalen II (24:0) und 24:25 beim Dritten TSG Altenhagen-Heepen (20:6) vor 1500 Zuschauern in der Bielefelder Seidensticker-Halle. Am vergangenen Wochenende besorgte sich die Mannschaft von Trainer Dirk Schmidtmeier gerade rechtzeitig einen weiteren Euphorieschub, weil sie mit dem 30:27 zum ersten Mal beim VfL Gladbeck gewann (Vierter) und mit den beiden weiteren Punkten gleichzeitig für die beste Hinserie in der eigenen Oberliga-Geschichte sorgte.
Andy Evers (52), der 1. Vorsitzende und Team-Manager der Westfalen, sieht die starke Zwischenbilanz ganz gerne, die Sportfreunde aber nicht unter Druck: „Klar stehen wir ganz gut da. Wir wollen uns punktuell verbessern, aber wir müssen jetzt nicht in die 3. Liga aufsteigen.“ Als glasklare Pluspunkte des Teams wertet er den mannschaftlichen Zusammenhalt und den schnellen Handball, den sein Coach bevorzugt. Evers selbst gehört seit 1972 als Mitglied zu den Sportfreunden Loxten, die in einem Stadtteil von Versmold im Kreis Gütersloh an der Grenze zu Niedersachsen zu Hause sind. Im Kader steht nur ein Spieler, der älter als 30 Jahre ist: Torhüter Pascal Welge (32). In der Summe sieht Evers zwar keinen klassischen Favoriten für die Partie, schanzt diese Rolle aber eher den Gastgebern zu: „Ich rechne für uns mit einer Außenseiterchance.“ Nun denn. Weiteren Erdkunde-Unterricht braucht im Übrigen nach dem Achtelfinale keiner der direkt Beteiligten mehr, weil im Viertelfinale die Sieger aus Derschlag/Werratal und Langenfeld/Loxten aufeinandertreffen. Den Weg nach Hamburg kennen sie vermutlich sogar alle auswendig.