29. Juni 2020 | Zurück zur Artikelübersicht » |
Das klingt akademisch. Und es ist akademisch: Dr. Patrick Luig. Aber abgehoben? Graue Theorie? Unverständlich? Nichts davon trifft zu. Ganz allgemein stammt Patrick erst einmal aus einer Handballer-Familie und hatte deshalb nicht den Hauch einer Chance, sich der Faszination dieses Sports zu entziehen. Wie verrückt die Luigs nach Handball waren/sind, bewies sein Vater, der selbst lange als Spieler unterwegs war. Kein Verein in Mesum? Macht nichts: Wir gründen einfach einen und nennen ihn HSC. Mesum liegt im nördlichen Westfalen in der Nähe von Emsdetten mit dem deutlich prominenteren TV. Luig war seinerzeit in der Jugend des TVE aktiv und ahnte vermutlich wenig davon, was daraus mal werden sollte. Seit dem 1. Januar 2019 arbeitet der 38-jährige Wahl-Rheinländer, der einen Kilometer außerhalb von Köln im Frechener Ortsteil Königsdorf lebt, als Bundestrainer. Aufgabengebiet: Wissenschaft und Bildung. Seine felsenfeste Auffassung: „Die Wissenschaft hat dem Sport zu dienen, sie ist für die Menschen da.“ Er holt die Theorie in die Praxis und verknüpft beides miteinander. Damit versteht sich Luig praktisch als Handlungsreisender – im Interesse aller Handballer, im Interesse des Sports.
Im Oktober 2015 gibt Luig seine Dissertation ab. Thema: „Verletzungen im deutschen Profi-Handball der Männer. Epidemiologische Aspekte von Wettkampf-Verletzungen bei Erst- und Zweitligaspielern (2010 bis 2013) unter Berücksichtigung systematischer Videoanalysen.“ Das über die Fakultät für Sportwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum veröffentlichte Werk legt viele Puzzleteile sehr genau dar – vom Anforderungsprofil im Profihandball über Verletzungen und Verletzungshäufigkeiten bis zu Ursachen, Videoanalysen und Statistik. Zu diesem Zeitpunkt kann Patrick Luig bereits auf einen großen Schatz an Erfahrungen zurückgreifen, denn nach dem Studium der Sportwissenschaften in Köln ist er von 2008 bis 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ruhr-Uni Bochum. Von dort wechselt er in die Verwaltungs-Berufsgenossenschaft – also in die „gesetzliche Unfallversicherung des bezahlten Sports“. Was er mitnimmt, sind die Leidenschaft für den Sport allgemein, für den Handball besonders – und die feste Überzeugung, wie wichtig Prophylaxe ist. Insgesamt legen RUB und VBG den Grundstein dafür, dass sich Patrick Luig auf die neue Bundestrainerstelle bewirbt. Und am Ende den Zuschlag bekommt. Dass er einige Jahre im Bereich der Trainer-Fortbildung für den DHB vorweisen kann, war bestimmt kein schlechtes Argument. Die Verantwortlichen wussten, wen sie einstellen.
Untrennbar verbunden mit dem Doktor Luig ist der Spieler/Trainer Luig – der in seiner aktiven Karriere irgendwann erkannte, dass es für den Sprung nach ganz oben nicht reichen dürfte. Was für ihn sprach: Gutes Auge für die Situation, guter Wurf, gute Ideen für Mitspieler. Was gegen ihn sprach: Mit 1,75 Metern fehlen ein paar Zentimeter, die andere Top-Leute auf der Position Rückraum Mitte haben. Und natürlich gibt es da vor allem eine Ausnahme, die als Regisseur seiner Mannschaft die Regel außer Kraft gesetzt hat: Ljubomir Vranjes, jener genial veranlagte Schwede, der unter anderem in der Bundesliga bei der SG Flensburg-Handewitt bisweilen über den Dingen zu schweben schien – obwohl er nur 1,66 Meter anzubieten hatte. „So herausragend wie Lubo war ich dann auch nicht“, sagt Patrick Luig, „und im Leistungsbereich wollte mich eigentlich jeder nach außen stecken. Da war ich aber nicht so gut.“ Beides klingt sehr sachlich und es ist die ehrliche Erkenntnis dazu, wo die eigenen Grenzen liegen. „Ich habe mir relativ schnell gesagt, dass ich es dann lieber auf der Trainerschiene versuche“, berichtet Luig, der seine Heimat verließ und 2001 zum Studium nach Köln wechselte.
Erste handballerische Station dort: SG TuS Königsdorf HHV Köln. „Das war damals der Hochschul-Handballverein und die wollten in die Oberliga aufsteigen. Wir hatten eine sehr spannende und sehr gute Truppe. Ich war nur ein Jahr da, aber es ist viel hängengeblieben“, erzählt Patrick Luig, der hier ganz schnell zu Hause war – was vermutlich nicht unwesentlich damit zu tun hat, dass er in Königsdorf seine spätere Frau kennenlernte. Nach dem Wechsel zum Neusser HV gab es noch den (Oberliga-)Spieler Luig, der sich parallel um die Jugend der Neusser kümmerte. Aus der damaligen A-Jugend gingen unter anderem Simon Schlösser, der beim Drittligisten Bergische Panther unter Vertrag steht, und Philipp Schneider hervor, der zu den Stützen des Regionalligisten TV Korschenbroich zählt. Die gemeinsame Saison konnte Luigs Entschluss allerdings nicht mehr aufhalten, dass der Aufwand für die Oberliga mit der Aussicht, vielleicht in die 3. Liga aufzusteigen, zu hoch und nicht alles unter einen Hut zu bekommen war. Mit 26 beendete Luig seine Karriere. Und er stieg 2009 in jenen Bereich ein, der ihn später sehr weit nach oben führen sollte.
Der Einstieg: TuS 82 Opladen. Die fünf Jahre sind eine Erfolgsgeschichte: „Das war für mich ein starker Schritt in meinem Erwachsenwerden als Trainer.“ Sein damaliger Kapitän ist Jean-Francois Voigt, mit dem ihn inzwischen eine enge Freundschaft verbindet. Einer seiner damaligen Spieler ist Fabrice Voigt, der die Opladener inzwischen in die 3. Liga geführt hat. Zwei, die immer noch dabei sind: Kreisläufer Hendrik Rachow und Manager Volker Leisner. Patrick Luig scheint alle Kader aus den Opladener Jahren mühelos aus dem Gedächtnis abrufen zu können und er hat nicht vergessen, wie lehrreich jene Zeit für ihn war: „Im Rückblick ärgerst du dich über viele Dinge, die du als Trainer gemacht hast. Heute hätte ich vieles anders gemacht – gerade, wenn ich mich an die Aufstiegsspiele erinnere. Die hätten wir mit dem Patrick Luig von heute ganz sicher gewonnen.“ Der Trost im Rückblick: Der TuS 82 durfte die Quali zwar spielen, doch der Verein hätte seinerzeit den Sprung in die 3. Liga aus wirtschaftlichen Gründen vermutlich nicht vollzogen.
Im Sommer 2014 wechselt Luig zum Bergischen HC, wo er einen direkten Einblick in den Profibetrieb gewinnt und die zweite Mannschaft mit vielen jungen Leuten übernimmt: „Mein Lieblingsbereich, in dem ich gearbeitet habe.“ Obwohl es für sein Team wenig bis keine Unterstützung von oben gibt, werden es drei erfolgreiche Jahre – mit dem Klassenerhalt in der Oberliga, dem Aufstieg in die Regionalliga und dem Klassenerhalt dort. „Für mich war die Zweite des BHC kein Rückschritt, sondern ein großer Schritt nach vorne. Ich konnte da eine Mannschaft komplett formen, wie ich es mir vorgestellt habe“, meint Luig, der 2017 trotzdem seine Zelte beim Bundesliga-Klubs abbricht und die Bundesliga-A-Jugend der Rhein Vikings übernimmt. Luig und seine Talente sollen Aushilfen für die erste Mannschaft stellen, das Oberliga-Team bestücken und zugleich die eigenen Ziele verfolgen – eine komplizierte Lage. Am Anfang der Saison 2018/2019 ist er weiter Trainer der Vikings, ehe parallel seine Bewerbung für die Bundestrainerstelle läuft. Mit dem ab 1. Januar 2019 beginnenden Vertrag ist klar, dass er für die Vikings nur noch bis zum Ende der Serie tätig sein wird. Im April wird dieses Kapitel sogar vorzeitig Geschichte, weil aus Luigs Sicht im Umfeld einfach zu vieles nicht mehr passt. Der Vorteil: Ab jetzt kann der Fokus komplett auf der Arbeit für den DHB liegen. Was Luig erneut nicht ahnt: Die neue Stelle, die ein Schritt auf dem Weg in eine weitere Professionalisierung des deutschen Handballs sein soll, wird ab Frühjahr 2020 eine extrem gefragte Zentrale für alle sein: Wie überstehen wir diese Phase, wie schaffen wir den Wieder-Einstieg? Corona hat den Handball im Griff. Und Luig würde sich hin und wieder den 48-Stunden-Tag wünschen.
Am 30. April veröffentlicht der DHB sein Positionspapier „Return to play“, das Patrick Luig zusammen mit Tim Nimmesgern und Frederik Wöhler erstellt hat. Am 21. Mai gründet der DHB die „Taskforce Return to competition“, der Luig ebenfalls angehört. Trainer-Fortbildungen, Seminare, zahllose Gespräche und Strategietreffen bestimmen den Ablauf seiner Arbeit – die in dieser Zeit ein hohes Maß an Flexibilität verlangt. Vieles, was gerade als aktuell gelten muss, verändert sich schnell. Als der Verband am 9. Juni ein neues Hygienekonzept für den Spitzensport verbreitet, formuliert es der DHB durch Axel Kromer, den Vorstand Sport, so: „Uns ist aus trainingswissenschaftlicher Sicht wichtig, zunächst die Vorbereitung zu beginnen und mit einem stabilen Aufbau perspektivisch wieder Spitzenleistungen zu ermöglichen.“ Seine Worte sind DIE Beschreibung dessen, was perfekt in den Verantwortungsbereich von Patrick Luig fällt und in der kurz zuvor veröffentlichten „Richtschnur für den Neustart“ steht. Der Plan richtet sich in erster Linie an die Profis aus der 1. und 2. Liga – aber nicht nur. „Die Empfehlung kann natürlich, angepasst an die individuellen Trainingsumfänge, auch von anderen leistungsorientierten Mannschaften übernommen werden“, betont Luig. In der Übersetzung: Mannschaften, die im Harzhelden-Gebiet in 3. Liga, Regionalliga oder Oberliga unterwegs sind, können sich ebenfalls daran orientieren.
Fast alle haben dasselbe Problem: Die Pause war lang und der Körper ist trotz ausgefeilter Athletik-Trainingspläne nicht aus dem Stand auf die hohen handball-spezifischen Belastungen eingestellt. Ein besonderer Punkt ist die Schulter-Problematik, ein anderer das fehlende Zweikampfgefühl. Folge: Die Fachleute empfehlen eine erste Phase des Herantastens, eine Art „Vor-Vorbereitung“ mit entsprechender Steigerung in den Wochen darauf, bis Anfang Oktober die Meisterschaft 2020/2021 in den höchsten deutschen Klassen wieder beginnen soll. Patrick Luig zuckt hier zusammen, weil er rechnen kann: „Wer nur Bundesliga spielt, ist ja noch gut dran.“ Die komplette Serie mit 36 Spielen pro Mannschaft muss bis Ende Juni 2021 durch sein, weil anschließend die Olympischen Spiele folgen. Für viele Top-Kräfte kommen in diesem Zeitraum weitere hochintensive Einsätze in europäischen Wettbewerben und mit den Nationalmannschaften hinzu – woraus sich ein irres Pensum ergibt.
Patrick Luig wird zusammen mit den Kollegen im DHB alles geben, um den schwierigen Weg zu begleiten. Für ihn ist mit seiner Anstellung trotz (oder vielleicht gerade wegen) der vielfältigen Aufgaben sogar ein Traum in Erfüllung gegangen: „Ich kann an der Stelle Dinge bewegen, über die ich mich früher als Trainer lange Jahre selbst geärgert habe. Jetzt bin ich selber dafür verantwortlich, was schiefläuft oder gut klappt. Es ist auf jeden Fall eine große Herausforderung. Beim DHB sind gerade viele Dinge sehr dynamisch, wir sind auf dem richtigen Weg.“ Seiner Ansicht nach profiliert sich der Verband gerade als Service-Stelle und Dienstleister mit „durchaus positiver Wahrnehmung auch in der Breite“. Er kennt den Vorwurf: „Ihr verliert die Basis und wisst gar nicht mehr, wie es bei uns unten aussieht.“ Der Bundestrainer kennt jedoch das Gegenmittel, eine Frage: „Was glaubt ihr denn, wo wir herkommen und wie wir angefangen haben?“ So schließt sich der Kreis. Dr. Patrick Luig klingt akademisch. Und es ist akademisch. Im Sinn hat er aber nur den Handball. Nicht für einen elitären Kreis, sondern für alle.