3. Liga Nord-West
Eagles-Trainer Felix Linden: Handball ist wie Schach
Der Coach der HSG Krefeld liebt seinen Beruf als Lehrer und die Arbeit als Trainer: "Ich bin ein Video-Nerd."

Ziemlich viel ex: Krefelds früherer Co-Trainer Felix Linden (hinten/Mitte) ist heute Chefcoach der HSG, während sein Vorgänger Arnar Gunnarsson (vorne/hockend) schon kurz vor Weihnachten 2019 entlassen wurde. Ex-Kapitän Tim Gentges (links) spielt künftig für den Regionalligisten TV Aldekerk und Ex-Betreuer Alwin op de Hipt (rechts) ist jetzt für den Regionalliga-Aufsteiger OSC Rheinhausen tätig. (Foto: Thomas Schmidt)

Dieser Mann atmet den Handball. Und trotzdem ist da nichts Entrücktes bei Felix Linden und nichts Abgehobenes. Er paart die Leidenschaft für den Sport und die durchaus schon beachtliche Karriere mit jeder Menge Bodenhaftung. Es ist vermutlich eine Art eingebauter Schutz-Mechanismus: Vergiss die Basis nicht, denk immer an diejenigen, die deine Arbeit begleiten. Linden kann trotzdem oder gerade deswegen auf eine verblüffende Vita zurückblicken: Als Trainer erwarb der heute 31-Jährige bereits mit 26 die A-Lizenz, als Sportlicher Leiter war er für die gesamte Abteilung des Landesligisten ATV Biesel in Mönchengladbach zuständig, für den Nachwuchs organisiert er Lehrgänge vor allem im Bereich Techniktraining, er schreibt Handball-Bücher. Und ganz bestimmt nicht zuletzt: Felix Linden ist im Hauptberuf Lehrer an einer Grundschule – und Sport natürlich eins seiner Fächer.  „Ich bin sehr dankbar dafür“, sagt Linden, „ich weiß, dass es ein Privileg ist.“ So sieht er das auch mit der kommenden Saison, die im Jahr eins nach dem Abenteuer 2. Liga in der 3. Liga seine erste komplette Serie als Cheftrainer der HSG Krefeld sein wird.

Die Saison 2019/2020 war weit mehr als nur turbulent. Dass der gebürtige Tönisvorster Linden ein Fachmann ist, hat sich natürlich längst bis zur HSG herumgesprochen, die einen Co-Trainer für ihren damaligen Chefcoach Ronny Rogawska sucht und bei Linden anklopft. Der freut sich sehr darüber und muss nicht lange nachdenken, bis er zusagt. Was beide Seiten nicht im Ansatz ahnen konnten: Als die 2. Bundesliga beginnt, ist Ronny Rogawska nicht mehr an Bord. Im Sommer 2019 endet die bis dahin erfolgreiche Ehe mit der Scheidung. In der Vertragsangelegenheit des Dänen vertreten beide Seiten extrem unterschiedliche Auffassungen. Für Linden bedeutet das in erster Linie: Er bekommt einen neuen direkten Vorgesetzten. Nun soll der Isländer Arnar Gunnarsson die Krefelder durch das erste Zweitliga-Jahr der Vereinsgeschichte führen. Es wird erneut eine ziemlich wilde Fahrt.

Tauchstation? Kevin Christopher „KC“ Brüren (links) pflegt sich aber nie zu verstecken. Der Rückraumspieler war auch in der 2. Liga eine der treibenden Kräfte der HSG. (Foto: Thomas Schmidt)

Das 16:24 gegen den VfL Lübeck-Schwartau ist ein unglücklicher Start – nicht nur wegen der hohen Niederlage, sondern besonders wegen des Pechs von Max Zimmermann. Der schnelle Außen erleidet bereits nach 90 Sekunden einen Kreuzbandriss und muss deshalb viele Monate aussetzen. Weitere sechs Niederlagen machten dann zeitig klar, wie hart das Jahr für den Aufsteiger werden sollte. Am achten Spieltag gelingt mit dem 30:26 gegen den TSV Bayer Dormagen zwar der erste Sieg, doch eine Wende zum Besseren stellt sich nicht ein. Am 14. Dezember 2019 verliert die HSG gegen die ebenfalls stark gefährdete HSG Konstanz mit 18:28 – ein Debakel. Für die Führung der Krefelder kommt nur noch die Reißleine in Frage. Deshalb entlassen sie den Isländer, der nie einen richtigen Draht zur Mannschaft gefunden zu haben scheint. Die restlichen beiden Spiele bis zur Pause über Weihnachten/Neujahr übernehmen Kapitän Tim Gentges und Felix Linden – der mal wieder nicht ahnen kann, wie es weitergeht. Obwohl der Aufsteiger wieder deutlich lebendiger wirkt, verliert er im alten Jahr auch gegen den HSV Hamburg und in Lübeck. Die frustrierende Bilanz: 2:34 Punkte.

In der Weihnachtspause fassen die Verantwortlichen der Stand der Dinge zusammen. Ein Ergebnis: Linden soll die HSG durch den Rest der Saison führen. Der zum Chef beförderte Co-Trainer schafft es sogar, der Mannschaft das frühere Leben zurückzugeben und das eine oder andere anständige Ergebnis abzuliefern. Pech hat die HSG direkt nach der Pause, als sie bei der DJK Rimpar Wölfe mit 26:27 verliert – weil Horst-Simon Ciupinski kurz vor Schluss die große Chance zum Ausgleich nicht nutzen kann. Fünf Spieltage und fünf zusätzliche Niederlagen darauf wird die Saison Anfang März coronabedingt unterbrochen und später abgebrochen – was für Krefeld besonders bittere Folgen hat. Der Verein, der frühzeitig keine sportliche Chance mehr sieht, verzichtet darauf, die notwendigen Unterlagen für die Lizenz 2020/2021 einzureichen. Damit sitzt er letztlich zwischen allen Stühlen, weil die HBL festlegt, dass es ausnahmsweise keine Absteiger geben soll. Juristische Bemühungen bringen keine Wende mehr und das Schiedsgericht der HBL lehnt Mitte Juni die Beschwerde der HSG gegen die Lizenzverweigerung letztinstanzlich ab. Die Krefelder, Linden eingeschlossen, halten die Entscheidung trotzdem unverändert für ungerechnet/falsch.

Geblieben: Mike Schulz ist einer der beiden Spieler (noch Kevin-Christpoher „KC“ Brüren), der aus dem alten Kader bei der HSG weiter an Bord ist. (Foto: Thomas Schmidt)

Staunen durfte Felix Linden schon einige Wochen vor dem HBL-Urteil, weil sich die Krefelder da längst intensive Gedanken über die Zukunft gemacht hatten. Ein Kernpunkt: Linden bekam eine Zusage zur Weiterbeschäftigung selbst in der 3. Liga. „Sie haben den Vertrag mit mir verlängert, obwohl ich als Trainer kein einziges Spiel gewonnen habe“, sagt Linden, „das ist nicht selbstverständlich. Ich freue mich sehr über das Vertrauen, dass mir die HSG schenkt.“ Der Sportliche Leiter Stefan Nippes hat es damals so formuliert: „Felix hat seine Sache in einer schwierigen Situation sehr gut gemacht. Er ist ein sehr talentierter Trainer, an dem ich vor allem seine Akribie und Leidenschaft schätze. Er identifiziert sich voll mit den Eagles und wir glauben, in ihm auch perspektivisch eine sehr guten Trainer zu haben.“ Noch ein Pluspunkt aus der Sicht der HSG: Linden verfüge über die Fähigkeit, sowohl mit jungen als auch mit erfahrenen Handballern arbeiten zu können.

An Arbeit allgemein wird in den kommenden Wochen und Monaten bis zum immer noch nicht genau terminierten Saisonstart sowieso kein Mangel sein, weil bei der HSG fast kein Stein auf dem anderen geblieben ist. Vom alten Kader sind lediglich Rückraumspieler Kevin-Christopher „KC“ Brüren (26) und Rechtsaußen Mike Schulz (29) geblieben. Dafür kamen gleich zwölf Neue, die zum Teil alte Bekannte in der Glockenspitzhalle sind – wie Maik Schneider (32), der in der vergangenen Saison der erfolgreichste Werfer in der 3. Liga war, und Kreisläufer Lars Jagieniak (21/beide zuletzt Leichlinger TV). Als Top-Verpflichtung wertet Krefeld Torhüter Oliver Krechel (29) und Oliver Milde (27), die vom Zweitligisten ASV Hamm/Westfalen kommen. Andere gelten als Wechsel auf die Zukunft – wie der vom Bundesliga-Aufsteiger TuSEM Essen mit einem Zweitspielrecht für die HSG ausgestattete Kreisläufer Niklas Ingenpass (21) oder Mittelmann Carlos Marquis (19) aus der Bundesliga-A-Jugend des TSV Bayer Dormagen. Gespannt ist Linden zudem darauf, wie der vom Regionalligisten MTV Rheinwacht Dinslaken geholte Rechtsaußen Steffen Hahn in der 3. Liga zurechtkommt: „Ein sehr interessanter Spieler.“

Rückkehrer: Maik Schneider (rechts) und Lars Jagieniak (Nummer 33), die zuletzt gemeinsam das Trikot des Leichlinger TV trugen, spielen nun gemeinsam wieder für Krefeld. (Foto: Thomas Ellmann)

Bei halbwegs präzisen Prognosen für die kommende Saison gibt sich Linden ein bisschen zurückhaltend. Er versucht es sogar mit einem Ausflug in die einfache Handball-Philosophie: „Natürlich ist es unser Ziel, jedes Spiel zu gewinnen. Und dann werden wir sehen, was am Ende dabei herauskommt.“ Etwas deutlicher geht es allerdings doch: „Ich bin kein Trainer des Understatements. Natürlich ist es unser Anspruch, ganz oben mitzuspielen.“ Der HSG-Vorsitzende und Gesellschafter Simon Krivec drückte es unmittelbar nach der Entscheidung des Schiedsgerichtes noch klarer aus: „Unser Kader ist so ausgerichtet, dass ein direkter Wieder-Aufstieg im Bereich des Möglichen ist.“

Falls sich daraus ein zu hoher Druck ableiten lässt, scheint er an Felix Linden abzuprallen: Er freut sich vielmehr diebisch auf die bevorstehende Aufgabe. Als Vorbereitung hat er in der Corona-Pause unter anderem eine dreistellige Zahl an Spielen gesehen: „Ich bin ein Video-Nerd.“ Daraus leitet sich gleichzeitig ab, dass ihm für seine Leidenschaft (fast) kein Aufwand zu hoch ist – egal, in welcher Klasse. „Ich komme von der Basis und ich bin ein ehrlicher Arbeiter.“ Ehrlichkeit und Respekt erwartet er auch von den Spielern, die er gleichzeitig ermutigt, ihre Meinung zu sagen: „Ich bin ein Trainer, der Typen mag.“ Einer aus dieser Kategorie ist der vom Zweitligisten TuS Ferndorf zur HSG gewechselte Kroate Marijan Basic (34). Der Regisseur gilt als „Unterschiedspieler“, der selbst unter Stress in der Regel die richtigen Aktionen abruft.

Krefeld soll in der 3. Liga vor starken Torhütern eine stabile Deckung stellen und einen wirkungsvollen Gegenstoß vortragen. „Vorne wünschen ich mir viele verschiedene Torschützen“, betont Linden, „wir brauchen nicht unbedingt den einen Top-Shooter.“ Insgesamt glaubt er, dass es im Handball nahezu keine Geheimnisse mehr gibt, weil sich in den oberen Klassen über jede Mannschaft und über jeden Spieler ziemlich komplette Datensätze oder bewegte Bilder finden lassen. Das macht das Trainer-Dasein für Linden im Übrigen noch reizvoller: „Handball ist wie Schach mit Figuren, die sich bewegen.“ Es geht um die schnelle Reaktion auf einen Versuch des Gegners oder das Denken um einige Züge voraus. Wer kann das besonders gut? Vermutlich einer wie Linden, der Handball atmet.