14. August 2020 | Zurück zur Artikelübersicht » |
Die Liste lässt dich doch zusammenzucken. Isländischer Meister? Natürlich. Mit KA Akureyri. Dänischer Meister? Selbstverständlich. Mit AG Kopenhagen. Deutscher Meister? Sicher doch. Zweimal mit dem THW Kiel, einmal mit den Rhein Neckar Löwen. Spanischer Meister? Auch das. Zweimal mit dem FC Barcelona. Französischer Meister? Klar. Praktisch eben erst mit Paris St. Germain. Und logisch: Gudjon Valur Sigurdsson hat auch die Champions League gewonnen. 2015 im Trikot des FC Barcelona. Er war Bundesliga-Torschützenkönig, Islands Sportler des Jahres, Islands Handballer des Jahres, Torschützenkönig bei der WM 2007 in Deutschland, Spieler der Saison in der Handball-Bundesliga. Weitere Höhepunkte: Olympia-Zweiter 2008, EM-Dritter 2010, Allstar Team Olympia, Allstar Team EM 2012. Da unten steht ein Dauerbrenner – einer, der den Handball atmet. Wir sind mit einem der erfolgreichsten Handballer der Welt zum Gespräch verabredet. In seine isländische Heimat brauchen wir dazu nicht zu reisen, auch nicht in die Seine-Metropole Paris. Sigurdsson ist seit ein paar Wochen der neue Cheftrainer des oberbergischen Traditionsklubs VfL Gummersbach. In der Schwalbe-Arena bringen „Goggi“ und sein aus Berlin gekommener Co-Trainer Anel Mahmutefendic die intensive Einheit mit der Mannschaft zu Ende, ehe wir uns einen Platz auf der Tribüne suchen. Sigurdsson macht es mir einfach: „Ich bin Gudjon. Was willst du wissen? Schieß los.“ Es wird eine angeregte Fragestunde.
Was eigentlich Goggi heißt und wer es erfunden hat? Ein ursprünglicher Bestandteil des Namens ist es nicht, nach dem Gudjon ja der Sohn von Sigurd ist. Sigurdsson erinnert sich allerdings noch sehr genau, wie es dazu auf seiner ersten Deutschland-Station kam. „Das ist ein Spitzname, den mir Patrekur Johannesson gegeben hat, der damalige Kapitän von TuSEM Essen. Unser Trainer Iouri Chevtsov und einige andere hatten Probleme, meinen Namen auszusprechen. Und zuerst haben wir darüber gelacht, weil ich nie gedacht habe, dass sich das festigen würde.“ Dass es seine Mutter am Anfang „fürchterlich“ fand, änderte wenig an der Umbenennung: „Das sagen heute fast alle in Deutschland.“ Und der Namens-Urheber hatte zusätzlich das Glück, ebenfalls aus Island zu kommen – was sich vermutlich strafbefreiend auswirkte. Fast 20 Jahre später ist aus dem reinen Spitznamen ohnehin ein Gütesiegel geworden.
Gudjon Valur Sigurdsson, der vermutlich schnellste 41-Jährige „Rentner“ in der Handball-Welt, war als Spieler einer der Großen – und er ist als Trainer ein Anfänger. Seine eigenen Kurzformel: „Da ein alter Sack, da ein junger Mann.“ Nach seinem Seitenwechsel in die sportliche Verantwortung bleibt er für die Spieler trotzdem „Goggi“ und nicht „Herr Sigurdsson“. Das hat mit seiner Heimat und mit seinem persönlichen Naturell zu tun: „Ein Sie gibt es praktisch nicht auf Island und ich habe auch nie Wert darauf gelegt.“ Das alles ist nicht zu verwechseln mit dem Verzicht auf Autorität, die Sigurdsson aufgrund seiner Vita sowieso mitbringt. Co-Trainer Mahmutefendic bringt es an diesem Vormittag mit ein paar Worten in die Runde genau auf den Punkt: „Es ist heiß und es ist für alle nicht einfach. Trotzdem machen wir das, was wir machen, richtig. Sonst könnten wir es lassen. Am Ende wird es sich auszahlen.“ Anel Mahmutefendic (42) und Goggi, die sich bis vor Kurzem überhaupt nicht kannten, scheinen auf dem besten Weg zu einem Top-Trainer-Team schon große Schritte hinter sich gebracht zu haben. Klarer Fall: Goggi ist das Gesicht des Vereins und der Chef – der jedoch für jeden Ratschlag offen ist.
Da drängt sich wie von selbst die Frage nach einem Vorbild auf. Ob er die hatte? Auf der Trainerseite liefen ihm immerhin Fachleute wie der heutige deutsche Bundestrainer Alfred Gislasson und der dänische Weltmeister-Coach Nikolaj Jacobsen über den Weg. „Ich habe 19 Jahre lang auf der Schulbank gesessen“, findet Goggi, der alle Erlebnisse dort gierig aufgesaugt hat und sich von jedem etwas abschauen kann/will. Im Kern denkt er trotzdem nicht daran, so wie dieser oder so wie jener werden zu wollen. Das ist schließlich der Markenkern des Namens Gudjon Valur Sigurdsson: „Ich werde authentisch bleiben. Ich bin ich.“ Diese (Lebens-) Einstellung hat er aus Island mitgebracht – jenem Inselstaat, der mit nur rund 370.000 Einwohnern in schöner Regelmäßigkeit Handballer von Weltklasse hervorbringt. „Der Weg in die Halle ist in Island für junge Menschen ganz leicht. Wenn du bei der Jugend spielst, durften wir oft länger in der Halle bleiben. Da hat uns keiner rausgeworfen.“ Rausgeworfen hätten sie ihn auch in Paris noch nicht aus ihrem Star-Ensemble rund um Nikola Karabatic und Mikkel Hansen – die Goggi selbstredend zu den herausragenden Handballern dieses Planeten zählt. Auf ein klare Nummer eins mag er sich dabei nicht festlegen, weil es aus seiner Sicht anderen wie dem Norweger Sander Sagosen („Der hat alles“) oder dem Isländer Aaron Palmarsson („Riesig“) nicht gerecht würde.
Auf den Umzug aus der französischen Großstadt ins überschaubare Oberbergische deutete bis vor einem halben Jahr wenig bis gar nichts hin. „Klar hatte ich im Kopf, irgendwann Trainer zu werden“, erzählt Goggi, „aber da war es noch mein Plan, weiter zu spielen.“ Die Corona-Pandemie warf auf der ganzen Welt viele Pläne durcheinander und bei Goggi reifte die Erkenntnis, dass jetzt doch die richtige Zeit für einen Einschnitt gekommen sei. Der VfL Gummersbach trat erst etwas später auf den Plan, als dessen Geschäftsführer Christoph Schindler über Goggis Berater den Kontakt suchte. Ein paar Gesprächsrunden weiter hatten alle Beteiligten ein sehr gutes Gefühl: „Wir machen das.“ Und Sigurdsson weiß genau, auf was er sich einlässt, weil er das Schicksal des VfL selbst aus der Ferne immer verfolgt und den Abstieg aus der Bundesliga im Juni 2019 als ziemlich schmerzvoll empfunden hat. Als Abstieg empfindet er seinen persönlichen Gang in die 2. Liga dagegen nicht: „Gummersbach soll stolz sein auf seinen Verein. Auch wir hier haben gute Jungs, die sich voll für alles einsetzen und viel erreichen wollen.“ Eleganter hätte er die Kurve kaum hinkriegen können von der Romantik der Vergangenheit mit zwölf nationalen Meisterschaften hin zur raueren Wirklichkeit mit deutlich geringer gewordenen Mitteln.
Geschäftsführer Schindler hat es bei Goggis Vorstellung Anfang Juli so formuliert: „Das Ziel bleibt weiterhin. den Verein zu konsolidieren. Wir sparen in dieser Saison also – unabhängig von Corona – noch Personalkosten ein und haben natürlich trotzdem das sportliche Ziel, aufzusteigen. Das sage ich nicht, weil ich Goggi und sein Team unter Druck setzen möchte, sondern weil ein Verein wie der VfL natürlich diesen Anspruch haben muss, wobei wir mit Blick auf andere Vereine natürlich wissen, dass das alles andere als ein Selbstläufer wird.“ Sigurdsson sieht es in der „sehr schwierigen 2. Liga“ ganz ähnlich und für einen Platz im Mittelfeld ist er nicht nach Gummersbach gekommen. Gleichzeitig warnt vor zu viel Euphorie: „Klar wollen wir so weit wie möglich oben landen. Aber ich kann nicht sagen, wo wir am Ende des Jahres oder am Ende der Saison stehen. Es ist überhaupt nicht mein Ding, große Töne zu spucken.“ Seine Versprechen auf der anderen Seite: „Ich will die Spieler besser machen. Wir wollen einen modernen und schnellen Handball spielen, der den Fans Spaß macht. Letztlich werden wir natürlich an Ergebnissen gemessen.“ Druck empfindet er dabei – wie in seiner Spieler-Karriere – keinen besonderen. „Es ist ein Privileg, das alles tun zu können“, stellt Goggi fest. So einer könnte sich ein Leben ohne seinen Lieblingssport kaum denken, sollte man meinen. Goggis Konter überrascht: „Sicher kann ich mir ein Leben ohne Handball vorstellen. Dann würde ich eben etwas anderes machen.“ Das lässt dich wieder zusammenzucken. Auf der anderen Seite beruhigt der neue VfL-Trainer: Es ist ein Gedanke, den er zurzeit als theoretische Möglichkeit ganz weit im Hinterkopf hat. Ganz weit vorne steht die Gegenwart im Oberbergischen. Zum Glück für den VfL Gummersbach, zum Glück für den Handball.