09. September 2020 | Zurück zur Artikelübersicht » |
Als der HSV Frechen am 29. Februar in einem umkämpften Regionalliga-Spiel mit einem 31:30 gegen die Frauen des SC Fortuna Köln den ersten, langersehnten Heimsieg schafft, ahnt wohl kaum jemand, wie die Lage ein halbes Jahr später aussieht. Tatsächlich läuft jetzt der Großteil des HSV im Trikot des damaligen Gegners auf – und die ersten Frauen in Frechen existieren so nicht mehr. Wer das verstehen will, muss noch ein paar Monate weiter zurückgehen. Nach einem schwierigen Saisonstart des Mittelrheinmeisters von 2018/2019 mit zahlreichen Verletzungen wichtiger Stammkräfte und lediglich einem Sieg (ausgerechnet bei Fortuna Köln – ebenfalls 31:30) aus sieben Partien hört sich Trainer Tobias Marquardt bei seinen Spielerinnen im November/Dezember bereits für die nächste Saison um. Da mindestens vier Spielerinnen keine Zusage geben und hinter den verletzten Spielerinnen große Fragezeichen stehen, entscheidet sich Marquardt Mitte Januar 2020 dazu, in der kommenden Serie nach acht Jahren im Frechener Frauenbereich nicht mehr als Trainer zur Verfügung zu stehen. Er erkennt unter den dünnen personellen Voraussetzungen keine Chance mehr, seine hohen sportlichen Ziele zu realisieren. Beim Abbruch der komplizierten Saison 2019/2020 steht der HSV mit 6:26 Punkten auf dem zwölften und letzten Tabellenplatz. Dennoch macht der Coach dem verbliebenen Team daraus nicht den geringsten Vorwurf: „Die Mannschaft hat sich trotz der ganzen Rückschläge zu keinem Zeitpunkt aufgegeben.“
In der Kölner Südstadt sieht die sportliche Lage der Fortuna nach einem soliden Saisonstart mit bloß zwei Niederlagen aus sieben Spielen deutlich besser aus. Allerdings ist die Personalsituation auch hier vor allem aufgrund von Verletzungen bereits sehr angespannt – was letztlich mit dazu führt, dass die Fortuna ihren eigenen Ansprüchen mit 13:19 Punkten und Rang acht nicht gerecht wird. Anfang 2020 stehen Dario Musacchio, der die Mannschaft im Herbst 2019 spontan und zunächst als Interimstrainer übernommen hatte, regelmäßig nur ein bis zwei Auswechselspielerinnen zur Verfügung. Trainingseinheiten muss er ab und zu sogar ganz absagen. Dass die Fortuna-Frauen mit einem sehr kleinen Kader auskommen müssen, erleben ausgerechnet die Frechenerinnen an jenem 29. Februar noch einmal hautnah. Kurz darauf beginnt eine neue Zeitrechnung.
Dass es auf persönlicher Ebene spannende Schnittstelle zwischen Vereinen gibt, kommt ja häufiger vor. So ist etwa die damalige Frechener Mannschaftsführerin Tine Stabauer mit Roman Stabauer verheiratet, der in den ersten Herren der Fortuna spielt und dort zusätzlich im Vorstand der Handballer arbeitet. In der Saison 2015/2016 hat sie selbst schon für die Fortuna gespielt – und deshalb ist es nicht komplett überraschend, dass sie sich am 1.März, also direkt nach dem heißen Duell in Frechen, bei Mareen Milse meldet – die wiederum Spielerin der Kölnerinnen und Frauenwartin ist. Da Tine Stabauer nicht das Gefühl hat, dass der HSV-Handballvorstand in Frechen alle Hebel in Bewegung setzt, um bald einen neuen Trainer und vielleicht den einen oder anderen Zugang zu präsentieren, fragt sie vorsichtig an, wie denn die Planungen bei der Fortuna aussehen. Dort stehen mittlerweile einige Abgänge fest, so dass nur sieben feste Zusagen für 2020/2021 vorliegen.
Als sich Tine und Mareen am 11. März das erste Mal wirklich zusammensetzen und durchzählen, wer aus welcher Mannschaft wahrscheinlich dabei wäre, kommen sie auf 14 bis 16 Spielerinnen. Als Mannschaftssport allgemein durch den Corona-Lockdown vorübergehend unmöglich wird, halten sich die Spielerinnen aus Frechen trotzdem weiter zusammen fit – online. Und Tine Stabauer trägt die Idee, als Team oder mit dessen Kern geschlossen zur Fortuna zu wechseln, bei einer Videokonferenz vor. Bis auf drei bis vier Spielerinnen, denen der Aufwand zu hoch oder die Verbundenheit zu Frechen zu groß ist, finden die Frechenerinnen die Idee gut – zumal ihnen weiter eine andere Lösung der Verantwortlichen fehlt. Am 6. April bekommt Mareen Milse diese Nachricht von Tine Stabauer: „Bierdeckel kannst du rausholen, wir unterschreiben!“ Frechens Vorstand Alexander Schmitz versucht zwar noch, die Möglichkeit einer Spielgemeinschaft auszuloten – doch rasch ist klar, dass es dazu nicht kommen wird. Alleine der administrative Aufwand wäre zeitlich nicht mehr zu stemmen gewesen.
Womit keiner der Beteiligten gerechnet hat: Plötzlich sind 27 Spielerinnen da – unter anderem wegen Corona, das manche Planungen durchkreuzt hat. Es ging jetzt eben nicht mehr ins Auslandsjahr und plötzlich wollte doch die eine oder andere mit Handball weitermachen. Und es kamen sogar externe Neuzugänge hinzu. So bestand die neue WhatsApp-Gruppe auf einmal aus 29 Spielerinnen (unter anderem fünf Torhüterinnen). Für Dario Musacchio, der als Trainer bei der Fortuna blieb, und die Spielerinnen war das eine ziemlich dicke Überraschung. Streichen musste er dennoch niemanden, weil sich einige letztlich freiwillig eher in die zweite Reihe zurückzogen oder doch ein Wechsel des Studienortes vorkam. „Es hat sich dann wirklich sehr natürlich ein Kader von 16 bis 18 Spielerinnen gefunden“, berichtet der Coach.
In der Südstadt freuen sich jetzt alle auf den Saisonstart am 20. September bei der SG Überruhr und über den großen Kader, den Mareen Milse schon als feste Einheit sieht: „Grüppchen hat es von Anfang an nicht gegeben, wir sind wirklich schon ein Team, auch wenn wir zu knapp zwei Dritteln aus, ’neuen‘ Spielerinnen bestehen.“ Das Derby gegen Frechen fällt zwar weg, aber die aktuelle Situation macht alle glücklich. Und nun braucht sich keiner mehr zu fragen, ob das nächste Training wirklich stattfinden wird und wie viele Auswechsel-Spielerinnen da sein werden. Beim HSV Frechen hingegen ist das sportliche Aushängeschild verschwunden. Dafür sind die zweiten Damen aus der Verbandsliga in die Oberliga Mittelrhein aufgestiegen, wo sie am 19. September als HSV Frechen I beim SSV Nümbrecht beginnen.