14. September 2020 | Zurück zur Artikelübersicht » |
Um ihn herum scheint ein Orkan toben zu können. Aber Gilbert Lansen und die Ruhe verlieren? Das passt irgendwie nicht zusammen. Dass er leidensfähig sein muss und bereit, eine Menge Leidenschaft zu investieren, war dem bisher im Jugendbereich tätigen Trainer sowieso klar, als er das Abenteuer Neu-Aufbau für den Neusser HV in der Regionalliga Nordrhein übernahm. Schon damals wollte er sich nicht lange mit dem aufhalten, was in der Saison zuvor zum Rückzug der einstigen Rhein Vikings aus der 3. Liga und den damaligen Turbulenzen geführt hatte. Also baute er zusammen mit dem Sportlichen Leiter Josip Jurisic ein völlig neues Team zusammen, das sich ins Unternehmen Klassenerhalt stürzen soll – was extrem schwierig werden dürfte. Trotzdem ging der Blick ganz zuversichtlich nach vorne. Selbst die coronabedingten Einschränkungen in der Vorbereitung steckten die Neusser weg. Und ausgerechnet jetzt, kurz vor dem Start in die Saison, prasselte der nächsten Nackenschlag auf die Handballer nieder. Der Rhein-Kreis Neuss formuliert die für den NHV üble Nachricht so: „Auf Grund der intensiven Reinigungen ist in die Unterkonstruktion des Hallenbodens in der Sporthalle des BBZ Hammfeld Wasser eingedrungen. Hieraus sind Schäden entstanden, die einer sicheren und gefahrlosen Durchführung des Vereinssports entgegenstehen. Der Rhein-Kreis Neuss ist bemüht, so schnell wie möglich eine Beseitigung der Schäden vorzunehmen, um den Vereinssport wieder in der Sporthalle zu ermöglichen. Wegen der Gefährdungslage und der Durchführung von Reparatur- und Erneuerungsmaßnahmen bitte ich um Verständnis, dass die Sporthalle für mindestens fünf Wochen nicht genutzt werden kann. Die Dauer der Sperrung ist abhängig von den durchzuführenden Maßnahmen.“ Die Übersetzung: Lansen und die Regionalliga-Mannschaft sind zurzeit irgendwie heimatlos.
Eine Welle der Hilfsbereitschaft hat dazu geführt, dass die Handballer zuletzt in die Hallen anderer Vereine in der Stadt ausweichen konnten. Der Haken: Hier herrschte jeweils absolutes Harzverbot – sicher nicht wirklich optimal, weil in der bald beginnenden Meisterschaft üblicherweise Haftmittel zum Einsatz kommen. Stichwort Meisterschaft: Da der Rhein-Kreis Neuss die voraussichtliche Dauer der Reparatur mit wenigstens fünf Wochen angibt, müssen auf jeden Fall die ersten Regionalliga-Heimspiele verlegt werden. Drei der ersten vier Partien waren in der Halle Hammfeld angesetzt – jene am 19. September gegen die SG Ratingen sowie die Spiele am 26. September gegen BTB Aachen und am 10. Oktober gegen die HSG Siebengebirge. Gelöst ist aktuell das Problem für die Saison-Premiere, denn die beiden Vereine konnten sich auf einen Heimrechttausch einigen. Die Neusser treten nun zunächst am Sonntag, 20. September (17 Uhr), in Ratingen an. Ähnliche Lösungen wollen sie in Gesprächen mit den Aachenern und Siebengebirge suchen – verbunden mit der Hoffnung, dass die Halle spätestens nach der Pause über die Herbst-Schulferien nutzbar ist und mit Verspätung die Heimpremiere 2020/2021 folgen kann.
„Nein, das hätte nicht passieren dürfen“, sagt Lansen, „wir sind eine Mannschaft, die sich noch finden muss. Wir stehen noch sehr am Anfang.“ Deutliche Fortschritte zeigte immerhin seiner Ansicht nach das, was im neuen Deutsch „Teambuilding“ heißt. „Da haben wir uns schon sehr gut gefunden“, betont der NHV-Coach, der mit seinen Spielern trotz oder gerade wegen der zahlreichen Widrigkeiten einen klaren Beschluss gefasst hat: „Es gibt kein großes Jammern. Wir machen das Beste draus.“ Dass die Fein-Abstimmung bis weit in die Saison hinein geht? Dann ist das eben so. Und größere Bauchschmerzen mit dem Blick auf den happigen Auftakt? Selbst der erste Gegner Ratingen, der aufgrund einiger Verstärkungen erneut als klarer Titelfavorit gilt, sorgt keineswegs für Panik: „Die müssen sich auch erst finden.“ Für die gesamte Saison sehen sich die Neusser ohnehin als „absoluten Underdog“. Wann und wo es dabei die erste Überraschung gibt? Vorerst vielleicht gar nicht. „Wir brauchen acht bis zehn Spiele, um in der Saison anzukommen“, vermutet Lansen, „es kann sein, dass wir die Hinrunde mit null Punkten abschließen.“ Dass er sich eine schönere Ausbeute erhofft, versteht sich von selbst.
In der Kaderliste des NHV tauchen insgesamt 20 Namen auf und weit über die Hälfte der Spieler ist um die 2o Jahre alt – was dem Team die Bezeichnung „Junge Wilde“ eingebracht hat. Am anderen Ende der Jahrgangs-Skala taucht dagegen ein ziemlich bekannter Handballer auf, der als unangefochtener Alters-Präsident durchgeht: Rückraumspieler Fabian Zarnekow, der seine Tore zuletzt in der Verbandsliga für die HSG Vennil/Rumeln/Kaldenhausen erzielte. Der 34-Jährige soll seinen riesigen Erfahrungsschatz unter anderem aus der 2. und 3. Liga gewinnbringend einsetzen und die vielen Nachwuchskräfte führen. Mit 22 verfügt Tim Dicks zwar über deutlich weniger Routine, aber er konnte zum Beispiel in den beiden vergangenen Serien erleben, wie sich die Regionalliga Nordrhein anfühlt – im Trikot des TV Korschenbroich, von dem er sich im Sommer verabschiedet hatte, um jetzt ein Studium in Straßburg zu beginnen. Obwohl sich der Plan nicht geändert hat, ergab sich offensichtlich eine Möglichkeit, dass Dicks erneut für Neuss aufläuft (wie 2016/2017 in der Jugend-Bundesliga). „Er ist mit einem Zweitspielrecht bei uns. Das bedeutet, dass er bei Semesterferien oder Ähnlichem für uns spielberechtigt ist. Er hat auch bis vor zwei Wochen bei uns mittrainiert“, erklärt Lansen. Daraus folgt eigentlich nur, dass ungewöhnliche Situationen ebenso ungewöhnliche Maßnahmen erfordern. Und sowieso: In der Ruhe liegt die Kraft.