21. September 2020 | Zurück zur Artikelübersicht » |
Er wirkt wie der Typ von nebenan. Dabei hat Jamal Naji einen fast märchenhaften Aufstieg hinter sich. Sein Heimatverein ist die HSG Siebengebirge, für die er mehr als ein Jahrzehnt als Spieler, Jugendleiter und Trainer unterwegs war – und wo er auch heute noch ziemlich beste Freunde hat. Auf der Trainerbank sehen wir ihn zum ersten Mal im Frühjahr 2019, als er bei der HSG einspringt und mit der Mannschaft in der Rückrunde den Klassenerhalt sichert. Parallel dazu arbeitet der Handball-Verrückte, der „nebenbei“ einen Master in Politikwissenschaft gemacht hat, längst als Trainer der A-Jugend und Jugend-Koordinator des Zweitligisten TSV Bayer Dormagen. Das bleibt Jamal Naji allerdings nur bis zum 30. Juni 2020, denn Ende 2019 hat er längst einen Vertrag als Trainer von TuSEM Essen in der Tasche. In der 2. Liga, dachten alle. Das war kurz vor Weihnachten – und ein glatter Irrtum. Beim späteren Abbruch der Saison steht Essen auf dem zweiten Tabellenplatz und wird gemeinsam mit dem Tabellenführer HSC Coburg in die 1. Liga befördert – nicht schlecht für einen, der von sich selbst sagt: „Ich habe keinen Karriereplan.“ Mittlerweile ist Naji seit gut 80 Tagen Trainer in jener Klasse, die manche für die stärkste der Welt halten. Also fragen wir ihn, ob er mit uns über seine bisherigen Erfahrungen sprechen will. Wenig überraschend: Er nimmt sich die Zeit und wir treffen uns im Leistungszentrum des Westdeutschen Handball-Verbandes in Essen. Eine Stunde später steht fest: Da sitzt jemand mit dir zusammen, der in sich selbst ruht.
„Es ist anders als früher, weniger organisatorische und administrative Arbeit. Wir haben ein großes Trainerteam und die Kompetenzen sind klar verteilt. Und in der Geschäftsstelle haben wir Leute, die dir viel wegorganisieren. Aber klar, die Tage sind nicht kürzer geworden“, berichtet Jamal. Zweimal Training täglich, die Auswertung der Einheiten und Video-Analysen sorgen für ein vollgepacktes Programm: „Es ist weder weniger noch mehr, es ist intensiver.“ Das klingt gelöst und frei von Sorge über eine zu hohe Belastung. Seine simple Erklärung: „Sollte da mehr Druck sein, spüre ich ihn im Moment noch nicht. Ich war nie ein Typ, der sich selbst Druck gemacht hat. Sicher habe ich einen Anspruch an mich selber. Aber es ist nicht so, dass mich externer Druck hemmt oder beflügelt. Ich versuche, das auszublenden.“ Wie das gelingen kann, ist für Jamal Naji eine Art Philosophie: „Ich befasse mich nicht mit der Eventualität des Scheiterns und das ist für mich ein ganz guter Regulator, dass man eben nicht den Druck bekommt.“
Für die meisten Außenstehenden ist klar, dass der TuSEM aus vielerlei Gründen einer der krassesten möglichen Außenseiter im Kampf gegen den Abstieg sein wird. Der Aufsteiger hat keine Stars wie Domagoj Duvnjak und Sander Sagosen, die beim THW Kiel die Fäden ziehen, oder solche wie die Rhein Neckar Löwen in Nationalspieler Uwe Gensheimer, einer der weltbesten Linksaußen, und im Schweizer Andy Schmid, der ebenfalls einer der komplettesten Handballer auf diesem Planeten ist. TuSEM-Kapitän Jonas Ellwanger führt eine Mannschaft an, die sich vermutlich den Respekt der Konkurrenz erst erarbeiten muss – und die Essener sind ziemlich heiß darauf, genau das zu tun. Bei Klima und interner Stimmung sieht Jamal Naji sein junges Team ohnehin längst auf Erstliga-Niveau: „Ich habe den Vorteil, dass das hier schon ein homogenes Gebilde ist mit den Spielern, die vorher beim TuSEM waren. Das ist eine verschworene Einheit mit einem sehr guten Charakter. Die Neuzugänge haben sich sehr gut integriert.“ Naji, von Hause aus ein sehr offener Typ, hat in den vergangenen Wochen und Monaten zudem ganz viele Gespräche geführt, um die Spieler in ihrer Entwicklung zu begleiten: „Das ist meine Aufgabe als Trainer. Ich will die Spieler nicht nur als Handballer kennenlernen, sondern auch als Menschen. Ich will wissen, welche Ziele sie haben und was sie motiviert. Ich glaube, dass vieles einfacher ist, wenn man weiß, welcher Mensch hinter dem Spieler steckt.“ Ein Parade-Beispiel dafür, wie groß die Unterschiede sein können, ist für ihn der frühere Nationaltorhüter Carsten Lichtlein, der heute beim TSV GWD Minden zwischen den Pfosten steht: „Auf dem Spielfeld unfassbar emotional, privat eher ruhig.“
Eine konkrete Ziel-Vereinbarung zwischen Verein, Trainerstab und spielendem Personal für die bald beginnende Serie gibt es nicht. Die Grund-Idee aller ist es jedoch, den Traditionsklub mittelfristig wieder in der 1. Bundesliga zu etablieren. „Und ich hätte natürlich nichts dagegen, wenn wir schon in diesem Jahr die Klasse halten“, erklärt Jamal, „das wäre wirklich toll. Aber selbst wenn das klappt, heißt das ja lange nicht, dass wir dieses mittelfristige Ziel erreichen. Im Umkehrschluss heißt das aber auch nicht, dass wir dieses mittelfristige Ziel nicht erreichen, wenn es in diesem Jahr nicht klappt. Unsere Vision können wir dann immer noch erreichen. Ich persönlich habe natürlich an mich den Anspruch, dass wir das Wunder schaffen und die Klasse halten.“
Keine Frage: Der einstige Deutsche Meister steht vor einer Tour mit Bergen der höchsten Kategorie – und er nimmt sie mit dem jüngsten Kader der Liga in Angriff. Jamals Rechnung: „Wir liegen bei unter 23 Jahren. Damit liegen wir knapp zwei Jahre unter dem nächstjüngeren Verein, der in meiner Auswertung Balingen wäre.“ Die Verbindung aus unerfahrenem Aufgebot und einem der kleineren Etats bereitet dem Essener Coach trotzdem kein Kopfzerbrechen – eher ist das Gegenteil der Fall: „Wir haben dafür hungrige Spieler. Es wird darauf ankommen, wie schnell wir uns entwickeln und eine gewisse Homogenität erreichen.“ Und weil Naji bei allem Optimismus nicht völlig weltfremd ist, rechnet er selbstverständlich mit Niederlagen: „Dafür musst du kein Hellseher sein, dass diese kommen werden. Dann wird es darauf ankommen, wie schnell wir lernen, mit Negativ-Erlebnissen umzugehen.“ Dass es vier Absteiger gibt, sorgt im Übrigen für noch mehr Spannung im Kampf um den Klassenerhalt.
Die auf den ersten Blick verblüffende Gelassenheit rund um die Halle „Am Hallo“ passt millimetergenau zur allgemeinen Lebens-Einstellung von Jamal Naji – der aus tiefstem Herzen dankbar dafür ist, seine Leidenschaft Handball zumindest momentan als Lebensmittelpunkt zu sehen und damit Geld zu verdienen. „Wir müssen das als Privileg verstehen, dass wir das machen und gegen die besten Handballer der Welt antreten dürfen“, betont der Wahl-Essener, „das gilt für die Spieler, die in der Bundesliga angekommen sind. Die Spieler, die aufgestiegen sind, dürfen stolz darauf sein, dass sie es geschafft haben.“ Und ja, es überkommt ihn eine Gänsehaut, wenn er an die Spiele in Kiel, Flensburg oder Magdeburg denkt. Das richtige Fieber kommt aber beim Gedanken an die Heim-Auftritte auf: „Am meisten freue ich mich darauf, in einer vollen Halle mit den eigenen Fans zu spielen. Darauf habe ich unglaubliche Lust.“
Jene Lust werden die Essener allerdings eine Weile zügeln müssen, wie sich vor ein paar Tagen ergab. Der ursprünglich auf den 1. Oktober angesetzte Start gegen FrischAuf Göppingen wurde nach Absprache mit dem Gegner in den späten November verlegt, weil die „Halle Am Hallo“ auf Erstliga-Anforderungen nachgerüstet werden muss – und nicht rechtzeitig fertig wird. Grund: Der Austausch der Hallenbeleuchtung, die so nicht den Anforderungen des übertragenden Bezahlsenders genügt, ist zu umfangreich und zeitaufwändig. Daraus folgt, dass Essen sein Comeback nicht zu Hause feiern kann und nun zum ersten Mal am 7. Oktober beim TVB Stuttgart wieder ins größere Rampenlicht tritt. Die Heimpremiere wird erst das Spiel am 18. Oktober gegen die HBW Balingen-Weilstetten sein – in der es definitiv um wichtige Punkte für den Klassenerhalt geht. In Stuttgart dürfte der TuSEM bereits eine erste Standortbestimmung bekommen und anschließend am 11. Oktober bei den zu den Top-Teams zählenden Rhein Neckar Löwen wenig zu verlieren haben.
Über die bevorstehende Saison macht sich Jamal Naji gerade eine Menge Gedanken, weil trotz der verspäteten Heimpremiere der Countdown läuft. Weniger Gedanken gehen auf die fernere Zukunft: „Es bleibt dabei, ich habe keinen Karriereplan.“ In der nahen Zukunft gilt die volle Kraft der Arbeit in Essen und dem Versuch, dauerhaft in der Bundesliga Fuß zu fassen: „Das wäre etwas Mittelfristiges, mit dem ich mich arrangieren könnte.“ Am Ende sieht er die Saison als erfolgreich, wenn sich die Spieler entwickelt haben, wenn er als Trainer gewachsen ist und „aus vielen Dingen etwas mitnehmen kann“, wenn das Mannschaftsgefüge unabhängig von der Ausbeute an Punkten intakt ist. Oberstes Prinzip: „Ich will, dass die Zuschauer aus der Halle gehen mit dem Gefühl, dass wir alles, aber auch wirklich alles Mögliche investiert haben, um etwas mitzunehmen. Wenn das klappt – super. Wir sind in Essen, einer Stadt der Arbeiter. Hier wird viel geschafft und malocht. Ich möchte, dass man das auf dem Spielfeld bei den Spielern wahrnimmt.“
Ob die anderen den Außenseiter aus dem Ruhrpott unterschätzen werden? „Ich hoffe es“, sagt Jamal, der einen Sekundenbruchteil später seine ehrliche Einschätzung folgen lässt: „Nein, ich glaube nicht. Alle Mannschaften sind auf diesem Niveau aufgrund verschiedener Möglichkeiten fast gläsern. Es wird kein Trainer in ein Spiel gehen, ohne den Gegner in fünf oder sechs Spielen maximal analysiert zu haben.“ Das gilt für ihn beim TuSEM natürlich ebenfalls und um den Fahrt-Aufwand von Köln-Mülheim ins Ruhrgebiet wenigstens gelegentlich zu begrenzen, hat der ziemlich frisch verheiratete Jamal Naji eine Wohnung in Essen und ein eigenes Büro beim Verein. Und sollte irgendwo eine Spur von Stress entstehen, wird selbst das kein Problem: „Ich kenne ja eigentlich nur solchen, den ich mir selber mache. Ich lasse ungern von außen bestimmen, ob ich gerade Stress habe oder nicht.“ Entspannung außerhalb des Sports wäre zurzeit sowieso schwierig, weil der Handball doch einen extrem bereiten Raum einnimmt. Immerhin: „Ich habe für mich entdeckt, wieder viel laufen zu gehen.“ Der Kopfmensch Naji interessiert sich darüber hinaus sehr für Politik – was durch sein Studium fast logisch ist. Die wenige richtig freie Zeit verbringt der Bundesliga-Trainer Naji möglichst mit seinen Freunden, unter denen sich durchaus Nicht-Handballer finden: „Ich weiß aber, dass ich da nicht allen gerecht werde. Zum Glück haben aber dafür alle Verständnis.“
Neid auf die Verhältnisse in Kiel, Flensburg oder Berlin? Kann und will sich Jamal Naji nicht leisten. „Essen ist ein sehr familiärer Verein. Die Ketten hier sind sehr kurz und wenn du was brauchst, kriegst du sofort Unterstützung. Das ist etwas, was ich im Ruhrpott sehr zu schätzen weiß – es gibt unheimlich hilfsbereite Menschen. Wenn du gerade auf die zugehst und eine Bitte äußerst, wird dir keine abgeschlagen. Deswegen bin ich total zufrieden, wie es gerade ist. Vielleicht schaffen wir es ja, die Strukturen in Essen so zu entwickeln, dass wir irgendwann mit anderen Vereinen auf einem anderen Niveau konkurrieren kann. Und Neid steht den meisten Menschen sowieso nicht gut zu Gesicht.“
Eine Art Wunschspieler hätte Jamal trotzdem: Nicht Kiels neuen Star Sagosen, sondern dessen Teamkollegen Duvnjak: „Weil er an beiden Enden des Spielfeldes so dominant sein kann. Außerdem ist er ein Mentalitätsmonster. Alles, was er tut, macht er mit 120 Prozent. Eine imponierende Spielerpersönlichkeit.“ Die Duvnjaks der Essener sind Kapitän Jonas Ellwanger (26) und Dennis Szczesny (26), denen Naji ebenfalls eine hohe Führungsqualität bescheinigt: „Jonas ist schon sehr, sehr gut darin. Er hat ein sehr gutes Gespür dafür, wie eine Mannschaft funktioniert. In Dennis haben wir einen Herzblut-Spieler – einen, der sich einfach immer reinhängt, der viele Emotionen generieren und Menschen damit anstecken kann.“
Typisch Jamal Naji: Wir beenden das Gespräch nicht, ohne über seinen Co-Trainer Michael Hegemann (43) zu reden – der 2007 zum Weltmeister-Kader von Heiner Brand gehörte und dort selbst ohne eine einzige Einsatzminute nicht unwesentlich zum damaligen Wintermärchen beitrug. „Das harmoniert sehr gut mit uns. Die Mannschaft und ich können ja nur maximal profitieren von der Erfahrung, die er aus 25 Jahren als Profi hat. Er hat den Sport immer mit Haut und Haaren gelebt. Außerdem ist er ein Super-Typ mit einem großartigen Humor. Ich bin sehr dankbar, dass der TuSEM ihn als Co-Trainer halten konnte“, betont Naji. Vom Co zu lernen, hält er für selbstverständlich: „Ich muss noch auf jeder Ebene was lernen. Wenn Trainer sagen, dass sie in gewissen Dingen nichts mehr lernen müssen, haben sie den Job verfehlt. Es gibt sicher Dinge, die kann ich besser als andere, aber lernen kann und will ich noch in jedem Bereich.“ Dass er demnächst verstärkt in der Öffentlichkeit steht, sieht er gelassen als Teil des Berufs, dem er sich mit Leidenschaft hingibt: „Ein Klempner hat ein klares Aufgabenprofil, ein Schreiner hat ein klares Aufgabenprofil – und so ist es bei mir auch.“ Zwei Wochen vor dem Auftakt zur Saison 2020/2021 sieht es nicht danach aus, dass Jamal Naji der märchenhafte Aufstieg zu Kopf gestiegen ist. Essens neuer Trainer ist der Typ von nebenan geblieben.