Harz beiseite
Michael Haaß kommt nach Hause: Mehr Ruhrgebiet geht nicht
Der Ur-Essener ist jetzt Cheftrainer beim HC Erlangen. Klares Ziel: Ein Sieg gegen TuSEM.

Erst Spieler, jetzt Trainer mit ganzem Herzen: Michael Haaß ist dankbar dafür, dass er seine Leidenschaft Handball zum Beruf machen konnte. (Foto: Oliver Gold/Sportfoto)

Es spielt der 16. gegen den 14. und 2:6 Punkte treffen auf 3:7. Es ist das Duell zwischen dem Aufsteiger TuSEM Essen und dem HC Erlangen. Hört sich nach Bundesliga-Alltag an. Im ersten Moment. Aber das genauere Hinsehen lohnt sich, obwohl nicht die Rhein-Neckar Löwen, die SG Flensburg-Handewitt oder der THW Kiel am Start sind. Es ist trotzdem ein großes Spiel – zunächst für die Essener, die unter der Regie ihres neuen Trainers Jamal Naji mit einer extrem jungen Mannschaft den Kampf um den Klassenerhalt bestehen wollen. Und es ist auch ein großes oder mindestens wichtiges Spiel für den HC Erlangen, der mit dem Thema Abstieg gar nichts zu tun haben will. Besonders dessen Trainer Michael Haaß wird noch mit ganz anderen Gedanken in den Bus steigen, der die Mannschaft über die rund 450 Kilometer aus der mit etwa 112000 Einwohnern kleinsten Großstadt Bayerns ins Ruhrgebiet bringt. Haaß, ehemaliger Nationalspieler und Mitglied der deutschen Weltmeister-Mannschaft von 2007, kommt nach Hause. Der 37-Jährige hat einst für TuSEM in der Jugend und anschließend in der Bundesliga gespielt. Es ist trotzdem mehr als „nur“ die Verbundenheit zum alten Verein, wie die Geburtsurkunde mit dem entsprechenden Datum beweist: Haaß wurde am 12. Dezember 1983 geboren. In Essen. Dort, wo seine Eltern leben. Mehr Ruhrgebiet geht nicht. 

Michael Haaß wechselte aus der Essener Jugend in die erste Mannschaft des TuSEM, als der Verein auf dem Weg nach oben und erfolgreich war. 2003, 2004 und 2005 nahm das Team jeweils am Europapokal teil – mit dem Triumph im EHF-Pokal als Höhepunkt. Der 1,94 Meter lange Rückraumspieler, der sich längst in das Notizbuch das damaligen Bundestrainers Heiner Brand gespielt hatte, musste die Essener verlassen, weil erst ein Hauptsponsor seine Zusagen nicht einhielt und der Klub keine Lizenz für die Bundesliga bekam. TuSEM wurde damals in die Regionalliga zurückgestuft. Haaß, seinerzeit eins der wenigen Essener Eigengewächse in der Bundesliga, blickt zurück – nicht unbedingt im Zorn: „Sonst hätte alles vielleicht einen ganz anderen Verlauf genommen.“ Über den folgenden Verlauf braucht Haaß allerdings kaum traurig zu sein, weil er zu einem der erfolgreichsten deutschen Handballer wurde. Spieler-Stationen: TuSEM Essen (2001 bis 2005), HSG Düsseldorf (2005, 2006), Rhein Neckar Löwen (2006, 2007), TSV GWD Minden (2007 bis 2009), Frisch Auf Göppingen (2009 bis 2013), SC Magdeburg (2o13 bis 2016), HC Erlangen (2016 bis 2020). 

Na klar: Michael Haaß hielt immer den Kontakt in die alte Heimat, obwohl die Entfernung in den vergangenen Jahren zu groß für spontane Blitz- und Kurzbesuche war. „Das sind ja nicht wenige Kilometer, die machst du nicht so einfach“, sagt Haaß. Familiär hatte er stets einen engen Draht in den „Pott“ und sportlich verfolgte er ebenfalls sehr aufmerksam, was sie in Essen so anstellen. Es waren weniger schöne Schlagzeilen wie 2008 der nächste Zwangsabstieg aus der Bundesliga (Antrag auf Eröffnung eines Insolvenz-Verfahrens) und erfreulichere wie die Rückkehr 2011/2012. Die Entwicklung unter Trainer Jaron Siewert ab 2017/2018 führte TuSEM schließlich in der vergangenen Serie zurück in die höchste deutsche Klasse. Der Klub stand zum Zeitpunkt des Saison-Abbruchs nach 24 von 34 Spieltagen auf Platz zwei und wurde nun zusammen mit dem HSC Coburg nach oben befördert. Michael Haaß hat praktisch aus der Ferne durchgeatmet: „Endlich wieder. Das war so etwas von verdient. Ich freue mich für den ganzen Verein.“

Außerdem freut er sich sehr auf das Wiedersehen mit den einstigen Weggefährten Herbert Stauber und Michael Hegemann. Stauber ist seit Langem Sportlicher Leiter der Essener – und er hat sich damals um den TuSEM-Nachwuchs gekümmert. „Er war mein allerster Trainer“, erzählt Haaß, „da war ich zwölf und in der D-Jugend.“ Mit Hegemann, ebenfalls Mitglied des Weltmeister-Kaders von 2007, verbindet ihn ein freundschaftliches Verhältnis. Das Urteil über den Handballer Hegemann hört sich an wie ein Ritterschlag: „Hege ist eine Legende.“ Der 43 Jahre alte Co-Trainer des neuen Esseners Cheftrainers Jamal Naji vereint Fachwissen und Leidenschaft zu einer Mischung, die dem Bundesliga-Rückkehrer auf dem weiten Weg zum Klassenerhalt tatsächlich wertvolle Dienste leisten sollte. Einziges Problem in der gesamten Angelegenheit: Die Herren Stauber und Hegemann verfolgen am Samstag komplett andere Interessen als der Wahl-Franke Haaß. Der lässt keinen Zweifel daran, dass ihn zwischen 18.30 Uhr und ungefähr 20 Uhr freundschaftliche oder verwandtschaftliche Fragen nicht im Geringsten interessieren: „Da denke ich nur an Erlangen. Was sonst?“

Zeichensprache: Michael Haaß teilt der Mannschaft bei Bedarf immer wieder klar mir, wie er sich die Dinge vorstellt. (Foto: Oliver Gold/Sportfoto)

Das Gen des Handball-Clubs trägt Michael Haaß inzwischen im fünften Jahr in sich. Als die Erlanger nach dem Abstieg aus der Bundesliga im Jahr darauf (2016) den direkten Wieder-Aufstieg schafften, sicherten sie sich die Dienste von Haaß, der aus Magdeburg kam – und als damals 32-Jähriger seine enorme Erfahrung einbringen sollte/wollte. Von der Zusammenarbeit waren beide Seiten bald ziemlich stark überzeugt, sodass sich bald ein Perspektiv-Wechsel für den Noch-Spieler anbahnte: Für den HC Erlangen sollte er 2019/2020 noch auf dem Feld seine Impulse setzen, um dann mit der Vorbereitung für 2020/2021 auf den Chefsessel zu wechseln. Am Ende wurde es ein bisschen früher, weil sich die Ereignisse vor allem in Februar 2020 fast überschlugen. Zuerst folgte die Trennung von Adalsteinn Eyjolfsson, dessen Interims-Nachfolger Rolf Brack bereits nach nur vier Spielen und 25 Tagen im Amt wieder draußen war. Michael Haaß hatte plötzlich eine Doppelfunktion – als Spieler und zusammen mit dem Sportlichen Leiter Kevin Schmidt sowie dem bisherigen Co-Trainer Tom Hankel als Teil eines Trainerteams. Der Wechsel auf der Kommandobrücke erfolgte nach dem 23:27 am 27. Februar gegen die auf dem vorletzten Platz liegenden Eulen aus Ludwigshafen und es wären eigentlich noch zwölf Spiele zu absolvieren gewesen. Der Spielertrainer Haaß kam bis zum Abbruch wenigstens auf eine ausgeglichene Bilanz – 20:24 beim SC Magdeburg, 28:26 gegen den Bergischen HC. Seinen letzten Bundesliga-Treffer erzielte er am 3. März in Magdeburg, der Erfolg über den BHC beendete nur zwei Tage später am 5. März die aktive Karriere des Michael Haaß aus Essen.

Der 37-Jährige ist glückliche über seine Aufgabe, die durchaus nicht wie aus heiterem Himmel auf ihn zukam: „Der Gedanke, so etwas zu machen, war schon ein bisschen länger da.“ Als das Angebot des HC Erlangen auf dem Tisch lag, brauchte der Ex-Spieler sowieso nicht lange zu überlegen: „Wenn du das in einem Bereich machen kannst, in dem es nur 20 Stellen gibt, musst du das annehmen.“ Auf einen bestimmten Trainertyp mag er sich nicht festlegen lassen („Gibt es für mich sowieso nicht“), wohl aber auf seine Art, den Handball zu denken: „Selbstverständlich habe ich bei allem, was ich tue, einen Plan.“ Von der Mannschaft verlangt er nicht zuletzt, dass die Spieler ihren Beruf ernst nehmen und das gemeinsame Ganze in den Blick nehmen: „Für mich ist wichtig, dass wir zusammen Handball spielen.“ Was er weniger leiden kann, sind die gerade coronabedingt häufiger vorkommende Geisterspiele. „Das ist immer eine traurige Vorstellung. Wir leben wie die Künstler vom Applaus.“ Obwohl sie da in Essen alle zustimmen, muss auch die Partie zwischen TuSEM und Erlangen vor leeren Rängen stattfinden.

Dabei weiß Michael Haaß auf der einen Seite, dass der Aufsteiger ein sehr gefährlicher Gegner sein kann: „Die wissen, was sie tun. Das ist eine gute Mannschaft.“ Auf der anderen Seite peilt er mit dem HC zwei Punkte an, um auf den Weg zu einem einstelligen Tabellenplatz (Saisonziel) voranzukommen: „Wir wollen gewinnen. Das ist unser Anspruch.“ Sollte der Plan aufgehen, hätte Michael Haaß in einem Auswärtsspiel sogar eine Art Heimsieg gelandet und jedenfalls einen Sieg in der Heimat. Der 16. gegen den 14. eine alltägliche Nummer? Ganz falsch. Es ist ein großes Spiel.