Handball und Corona
Das Beispiel Essen: Es geht nicht nur um zwei Punkte
TuSEM gegen Erlangen war ein "Geisterspiel" der 1. Bundesliga. Die Alternative? Aktuell keine. Nur wer sich zeigt, bleibt im Gespräch - in allen Klassen.

Wer den Humor nicht verliert: In der Essener Halle „Am Hallo“ hatten beim Heimspiel gegen Erlangen passenderweise doch ein paar Geister einen guten Blick aufs Spielfeld. (Foto: Harzhelden)

Das ist gerade überall so. Wer sich auf den beruflichen Weg macht zu einem Spiel der Handball-Bundesliga, spart Zeit. Einen Parkplatz findet er erst mal immer – selbst ohne entsprechenden Berechtigungsschein. Deshalb geht es auch an diesem siebten Spieltag ganz schnell. Der Mitarbeiter des Vereins, der dennoch die Zufahrt kontrolliert, winkt dich mit einem Augenzwinkern durch: „Im Moment ist noch genug frei.“ Bis zum Anpfiff bleiben rund 45 Minuten – und es wird sich am großzügigen Raum-Angebot nicht mehr viel ändern. Zuschauer sind ja bei diesem Duell „Am Hall0“ nicht erlaubt und die direkt Beteiligten sind längst da – jene, die die umfangreiche Organisation mit ausgefeiltem Hygienekonzept verantworten/durchführen, und jene, die auf dem Feld für den sportlichen Erfolg und ihre Leidenschaft kämpfen werden – und mehr als das. Der Aufsteiger TuSEM Essen und der HC Erlangen wollen nicht nur ihr Punktekonto auffüllen, sondern sich auch für den Fortbestand des Handballs einsetzen. Natürlich finden sie es jammerschade, dass sie keine Fans im Rücken haben, was vielleicht besonders den Essenern ein Stück weit geholfen hätte. Es handelt sich um das, was gerade unter der Rubrik „Geisterspiel“ an den Start geht – eine Alternative zur Einstellung des Spielbetriebs wie in den unteren Ligen. Es ist ein Kampf ums Überleben der Sportart.

TuSEM verliert am Ende verdient gegen Erlangen, vielleicht mit dem 20:26 das eine oder andere Tor zu hoch. Was völlig normal ist: Trainer Jamal Naji und sein Erlanger Kollege Michael Haaß, der gebürtige Essener, zeigen leidenschaftlichen Einsatz. Hin und wieder diskutieren sie mit den Unparteiischen Otto Jannik und Raphael Piper, um sich über unterschiedliche Sichtweisen zu einzelnen Entscheidungen auszutauschen. Das ist dann in der nahezu leeren Halle bisweilen ganz gut zu verstehen. Und die Chefs der Teams verdienen sich im Laufe der 60 Minuten ein dickes Kompliment: Ihre Kommunikation mit den Spielleitern ist bei allem sportlichen Stress stets sachlich. Mag sein, dass es an den beiden beteiligten Typen liegt, die ohnehin als sehr faire Sportler gelten. Jannik und Piper zahlen mit passender Münze zurück, weil sie sich dem Dialog nicht verweigern – und trotzdem den Eindruck machen, dass letztlich sie das Sagen haben.

Und die Mannschaften? TuSEM hat es schwer, weil vorne der Ertrag nicht stimmt und weil es hinten den aus Flensburg nach Erlangen gewechselten Simon Jeppsson nicht in den Griff bekommt. Der 25 Jahre alte Schwede trifft hin und wieder genau in dem Moment, in dem es seine Mannschaft besonders gut gebrauchen kann. Stichwort: Einfache Tore. Sein Chef Haaß registriert es beinahe gelassen: „Dafür haben wir ihn ja geholt.“ Es ist ein wesentlicher Baustein für den Erfolg des HC, bei dem Kreisläufer Sebastian Firnhaber doppelt zu feiern hat, denn er entscheidet zusätzlich das Bruderduell mit TuSEM-Rückraumspieler Lucas Firnhaber mit 4:1 Toren zu seinen Gunsten. Über 60 Minuten sieht das insgesamt alles sehr normal aus und vor allen nach zwei Mannschaften, die unbeeindruckt alles aus sich herausholen. Die andere, derzeit gültige Normalität zeigt sich nach der Schluss-Sirene. Schon zwei oder drei Minuten später sieht die Halle fast so aus, als wäre nichts gewesen. Erlangens Jeppsson und Essens Noah Beyer machen sich nacheinander noch auf den Weg zum Fernseh-Interview, die anderen verschwinden schnell in den Katakomben. Kurz darauf kommt TuSEM-Coach Jamal Naji noch einmal zurück und nimmt auf der Bank am Spielfeldrand Platz. Er will bestimmt ausreichend gedanklichen Abstand zu den 60 vorher gesehenen Minuten haben. 

Wie Sieger wirken besonders die Essener aus gegebenem Anlass nicht. Aber sie haben ebenfalls etwas gewonnen: Der Abend ist der Nachweis dafür, dass Handball in einer extrem schwierigen Zeit trotzdem gelingen kann. Wie lange das die Vereine mit hohem organisatorischen Aufwand und bestehenden Kosten sowie fehlenden Einnahmen aus dem Ticketverkauf durchhalten (können), ist eine andere Frage. Ob nicht doch wenigstens eine begrenzte Zahl an Fans in die Halle dürfen sollte, ebenfalls. Ändern wird sich am Ist-Zustand zumindest im November allerdings nichts und TuSEM steht am 15. gegen die HSG Nordhorn-Lingen vor der nächsten schwierigen Aufgabe. Dann trifft der 17. mit 2:8 Zählern auf den 18. mit 2:10 Punkten. Soll heißen: Es ist eine jener Partien, die als besonders wichtig für den Kampf um den Klassenerhalt anzusehen sind. Es ist zudem – siehe oben – eine jener Partien, die für den gesamten Handball als überlebenswichtig anzusehen sind. Handball ohne Publikum scheint offensichtlich für einen begrenzten Zeitraum möglich zu sein. Und selbstverständlich ist es viel schöner, irgendwann wieder darüber klagen zu dürfen, dass einfach kein Parkplatz frei ist. Ganz am Ende: Das gilt nicht nur die 1. oder 2. Bundesliga, sondern auch für die 3. Liga oder allen anderen Klassen. Nur wer spielt/spielen will, verhindert, dass er von der Bildfläche oder zumindest aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwindet.