In der "Blase"
Kein Legoland, keine Pyramiden: Nur der Handball zählt
Für die Dormagener Patrick und Ian Hüter geht ein Traum in Erfüllung. Sie spielen mit den USA bei der Weltmeisterschaft in Ägypten.

Wir sind gespannt: Ian Hüter (links) und Patrick Hüter stürzen sich mit Volldampf ins Abenteuer Weltmeisterschaft. (Foto: Thomas Schmidt)

Da sieht doch direkt nach einem ausgeklügelten Plan aus. Wer zu den Weltmeisterschaften fährt, braucht natürlich eine passende Vorbereitung – erst recht dann, wenn er die Kollegen aus der Nationalmannschaft nicht so sehr oft trifft. Und wo ließe sich das besser hinbekommen als im Land des amtierenden Weltmeisters? Dort sollten sie ja ganz gut wissen, was zu tun ist. Deshalb führt der Weg von Patrick Hüter (25) und Ian Hüter (23) erst mal nach Dänemark, wo sie im Laufe des Montags ihr Quartier in einem ausschließlich für sie reservierten Hotel beziehen. „Sie“ sind in diesem Fall aber nicht nur die beiden tragenden Säulen des Zweitliga-Vierten TSV Bayer Dormagen, sondern alle Spieler sowie die Trainer- und Betreuerstab der Nationalmannschaft – jener der USA, die einst als Land der unbegrenzten Möglichkeiten galten und das für viele immer noch sind. Die Realität: Den in Neuss geborenen Hüter-Brüdern eröffnen sie jetzt tatsächlich die Chance, dass in Ägypten ein Traum in Erfüllung geht. Sie dürfen sich mit den Besten der Welt messen, sie spielen ab dem 14. Januar bei der WM für die Vereinigten Staaten – weil ihre Mutter von drüben stammt und sie damit neben der deutschen auch die US-amerikanische Staatsbürgerschaft besitzen. Dass es jetzt wirklich losgeht, war längere Zeit kaum (be-)greifbar: „Wir mussten uns manchmal selber kneifen.“ Für ihren Traum sind sie bereit, eine Menge zu geben und strenge Regeln zu beachten: Sobald sich die Tore des Hotels hinter ihnen geschlossen haben, gehören die Hüters zu dem, was in der neuen Handball- Sprachschöpfung „Bubble“ heißt. Sie dürfen nur für den Handball raus. Ihr Leben wird im Wesentlichen zwischen Hotel und Sporthalle stattfinden.

Billund ist eine 6500-Einwohner-Stadt mitten in Jütland. Sie liegt strategisch günstig und verfügt über den zweitgrößten Flugplatz Dänemarks. Doch nicht dafür ist sie bekannt – denn Billund ist die Heimat der Lego-Steine, die einst ihren Siegeszug in die Welt antraten und sogar auf viele Erwachsene magisch anziehend wirken sollen. Patrick und Ian Hüter werden in den kommenden acht Tagen weder das einen Steinwurf entfernte Legoland noch den Wasserpark Lalandia besuchen dürfen: Beide Freizeit- und Vergnügungsstätten sind zurzeit geschlossen. In Ägypten entgeht ihnen in Kürze sogar die große Weltgeschichte – auf die sie vielleicht beim Lande-Anflug einen Blick werfen dürfen. Das US-Team gehört beim WM-Turnier zur Gruppe E, die ihre Vorrunde in Gizeh austrägt – das mit über vier Millionen Einwohnern die drittgrößte Stadt Ägyptens ist und zur Metropol-Region Kairo gehört. Die Handballer werden den Nil nur aus der Ferne bestaunen können. Große Tempel-Anlagen oder die berühmten Pyramiden von Gizeh? Müssen warten. Es gilt dieselbe Formel: Raus aus dem Hotel/Resort gehts nur in die Sporthalle und von dort aus auf direktem Weg wieder zurück. Für die Hüters stand trotzdem von Anfang an fest: Klar machen wir mit, die WM ist sportlich das Größe für jeden Sportler. Gemeinsames Credo: „Handball ist unser Leben.“

Abflug: Die Reisegesellschaft mit Paul Skorupa, (HSG Krefeld Niederrhein), Ian Hüter, Gary Hines (HSV Gräfrath), Patrick Hüter (von links) und Trainer Robert Hedin (hinten) hatte am Montagmittag in Düsseldorf offensichtlich gute Laune. (Foto: PH)

Dass Regisseur Ian und Kreisläufer Patrick Hüter zum US-Team gehören, war für ihren dortigen Chefcoach von Anfang an selbstverständlich. „Das ist ganz einfach. Wenn du gut genug bist, bist du dabei. Und die Hüters gehören zu den Besten“, sagt Robert Hedin (54). Bei den meisten Handball-Fans dürfte da was klingeln: Hedin bestritt fast 200 Länderspiele für Schweden und holte unter anderem zweimal Olympia-Silber (1992, 1996). Außerdem stehen EM-Gold (1994) und WM-Bronze (1993) in seiner Vita als Spieler. Auch die Bundesliga kennt ihn – als Spieler und Trainer (etwa MT Melsungen, TuS N-Lübbecke). Dass Hedin so etwas über zwei seiner Schützlinge sagt, ist deshalb durchaus kein Gefälligkeits-Gutachten, sondern eine hohe Auszeichnung. Ein weiteres besonderes Zeichen der Wertschätzung: Als Ian Hüter im Jahr 2018 für die Nationalmannschaft nominiert wurde, ernannte ihn Robert Hedin sofort zu deren Kapitän – obwohl Ian damals erst 21 Jahre jung war. Damit hat er gleichzeitig seinen älteren Bruder „eingeholt“, der bekanntlich in der 2. Liga immer die Dormagener als Kapitän aufs Feld führt. Logisch: Beide sollen im US-Trikot bei den Weltmeisterschaften ebenfalls ihre Führungsqualitäten einsetzen.

Die Vorbereitung in Dänemark wollen die US-Handballer nutzen, um sich als Team zu finden – das zum größeren Teil aus in Europa tätigen Spielern besteht. Der Grund ist simpel: Handball ist in den USA höchstens eine Randsportart – gilt allerdings als eine Art schlafender Riese, den es „nur“ zu wecken gilt. Darum sehen sich Patrick und Ian Hüter nicht zuletzt als Entwicklungs-Arbeiter: „Wir wollen helfen, Handball dort populärer zu machen.“ Dass dieser Weg ein weiter sein wird, ist ihnen bewusst, weil die Qualifikation für eins der ganz großen Turniere momentan eher eine zu große Hürde ist. Mit Ägypten klappte es diesmal ohne Quali, die in Nordamerika/Karibik wegen der Corona-Pandemie ausfiel. Anschließend suchte der Handball-Weltverband trotzdem eine Besetzung für den freien Platz – und gab letztlich den USA den Zuschlag. Eindeutiges Votum: Dort gebe es einen weltweit wichtigen Markt für den Handball. Vielleicht schaffen es Patrick und Ian Hüter ja sogar, bis 2028 durchzuhalten: Dann ist der eine 33 und der andere 31. Die Olympischen Spiele in Los Angeles als Abschluss? Es gibt definitiv schlechtere Ideen. Ganz „nebenbei“ könnten die Hüters in der amerikanischen Heimat ihrer Familie und Freunde fast an Ort und Stelle zeigen, dass sich Handball nicht hinter Football, Baseball oder Eishockey verstecken muss. Das Herz der Herren schlägt für Kalifornien, weil die Mutter aus San Francisco stammt. Regelmäßige Besuche dort gehören zum „Pflichtprogramm“.

Aus dem Weg! Ian Hüter (mit Ball) scheut als Regisseur auch keinen intensiven Zweikampf – weder in Dormagen noch im US-Trikot. (Foto: Thomas Schmidt)

In Dänemark bereitet Hedin seine Mannschaft durch zweimal Training pro Tag vor – und in insgesamt drei Tests gegen örtliche Erstligisten, die Aufschlüsse über den aktuellen Leistungsstand geben werden: Ribe-Esbjerg, Sonderjyske und Kolding aus der „Handboldligaen“ sind anspruchsvolle Gegner, ehe die Reise-Gesellschaft zur WM nach Ägypten aufbricht und dort in die „Mission Impossible startet“. Bereits die Auftakt-Partie hat es in sich, obwohl sie am 14. Januar von allen dreien in der Gruppe E vermutlich die einfachste ist: Die USA starten gegen Österreich ins WM-Turnier. „Wir können befreit aufspielen“, sagt Patrick Hüter. Das gilt wohl noch mehr am 16. Januar gegen Norwegen (Vizeweltmeister 2017 und 2019, EM-Dritter 2020) und am 18. Januar gegen Frankreich (zweimal Olympiasieger, dreimal Europameister, sechsmal Weltmeister). Kentin Mahé oder Ludovic Fabregas bei den Franzosen sowie die Kieler Sander Sagosen oder Harald Reinkind bei den Norwegern werden definitiv dafür sorgen, dass die US-Handballer eine Menge lernen. Solche Gelegenheiten sind das, worauf die Hüters in ihrer Profi-Karriere hingearbeitet haben. Sie haben im Übrigen keineswegs vor, an Ort und Stelle nur ehrfürchtig zuzuschauen. Für Patrick und Ian Hüter geht ein Traum in Erfüllung. Und den wollen sie selbst in der Blase leben. So intensiv wie möglich.