15. Januar 2021 | Zurück zur Artikelübersicht » |
Wir beginnen mit einer Wette. Die Handball-Weltmeisterschaft in Ägypten umfasst 108 Spiele zu jeweils 60 Minuten. Daraus ergeben sich 6480 Minuten oder – na klar, 108 Stunden. Wer alles über die ausstrahlenden Medien sehen mag, muss bei insgesamt 19 Turniertagen pro Tag etwa 5,68 Stunden investieren. Das ist ziemlich viel Zeit. Zu viel? Nicht für Felix Linden. Der 32-Jährige hat schon immer zugegeben, dass er von Handball gar nicht genug bekommen kann: „Ich bin ein Video-Nerd.“ Er hätte gut und gerne hinzufügen dürfen, dass ihn alle relevanten Fakten zur großen sportlichen Leidenschaft brennend interessieren. Sein Motto: „Statistik? Her damit!“ Felix Linden geht nämlich auch als Daten-Freak durch. Das Besondere daran: Er ist gleichzeitig ein ausgewiesener Experte und als Chefcoach des Drittligisten HSG Krefeld Niederrhein ein Mann der Praxis. Wir freuen uns, dass wir mit Felix gemeinsam die Idee für eine Zusammenarbeit entwickeln konnten. Er ist für die nächsten gut zwei Wochen als unser Experte bei der WM in Ägypten unterwegs – selbstredend aus dem Home Office heraus. Das beherrscht Linden im Übrigen ebenfalls richtig gut, weil ihm in diesen Wochen und Monaten als Lehrer an einer Grundschule oft nichts anderes bleibt. „Gerade sind wir dabei, die Halbjahreszeugnisse vorzubereiten“, berichtet Linden. Es ist ein gutes Stichwort: Für die WM wird er mit seiner Analyse regelmäßig eine andere Art von Zeugnis ausstellen. Sein Haupt-Augenmerk richtet er auf die Auftritte der deutschen Mannschaft, die in ihrer Vorrundengruppe A am Freitagabend gegen den Außenseiter Uruguay ins Turnier startet.
„Ich will mir generell alle Bereiche anschauen“, betont Linden, „und natürlich taktische Dinge beurteilen.“ Dabei hat er nicht vor, sich im „Fach-Chinesisch“ zu verlieren, denn es geht nicht um eine wissenschaftliche Aufarbeitung – sondern darum, das Gesehene und Geschehene allgemeinverständlich einzuordnen. Das Ziel: „Kurz, knapp und prägnant“ soll es sein. Natürlich wird er seinen Diagnose-Blick hin und wieder auf andere Nationen werfen, um mögliche Trends aufzuspüren. Ein Beispiel: „Ich gehe davon aus, dass wir im Angriff ganz viel sieben gegen sechs sehen werden.“ Ein anderer Bereich könnte das Tempospiel sein – genauer gesagt die Untersuchung, wer mit welcher Geschwindigkeit unterwegs ist. Beobachtung an den ersten Tagen: Es gibt beträchtliche Unterschiede.
Die Analyse wird Felix Linden sehr gewissenhaft durchführen – was für sich genommen bereits für hohe Qualität bürgt. Aber es kommt noch besser, weil er sich nicht nur auf eigene Beobachtungen verlassen wird. Zwei ebenfalls dem Handball verfallene Daten-Experten wollen ihm zur Seite stehen: Statistiker Oliver Brosig und Jörn Uhrmeister, der an der Ruhr-Uni Bochum am Institut für Sportwissenschaft arbeitet – offiziell im „Lehr- und Forschungsbereich Sportarten und Bewegungsfelder“. Die beiden haben den „PlayerScore“ erfunden, der bei der Ermittlung unter anderem des komplettesten Spielers bei einem WM-Turnier helfen kann. Selbstredend ist es aufgrund der ermittelten Daten möglich, jede einzelne Partie in viele Puzzleteile zu zerlegen. Daraus folgt unter anderem: Der „man of the match“ muss durchaus nicht automatisch der erfolgreichste Werfer sein. Wie ist die Wurfquote? In welcher Phase des Spiels ist ein Tor gefallen? Wie war die Abwehrleistung, wie die Effektivität insgesamt? Am Ende dürfte eine Analyse stehen, die sich sehen lassen kann – handballerisch fundiert und wissenschaftlich untermauert. Für den Experten, der selbst als Trainer unterwegs ist, und für den großen Kreis der Handball-Fans – die Basis also.
Jene Basis liegt Felix Linden sowieso besonders am Herzen. Als Trainer erwarb der heute 32-Jährige bereits mit 26 die A-Lizenz, als Sportlicher Leiter war er für die gesamte Abteilung des Landesligisten ATV Biesel in Mönchengladbach zuständig. Für den Nachwuchs organisiert er in „normalen“ Zeiten Lehrgänge vor allem im Bereich Techniktraining. Außerdem schreibt er Handball-Bücher. Für den Lehrer ist Sport eins seiner Fächer und hier hat er mit Kindern zu tun, denen er mit Leidenschaft etwas beibringen will – wie das bei seinen Krefelder Drittliga-Spielern nicht anders ist. Dass heute mehr Daten als je zuvor zur Verfügung stehen, sieht Linden im Übrigen nicht als Gefahr für Emotionen und Leidenschaft des Handballs. Er hört sich fast wie das Gegenteil an: „Handball ist wie Schach mit Figuren, die sich bewegen.“ Es geht immer noch um die schnelle Reaktion auf einen Versuch des Gegners oder das Denken um einige Züge voraus. Wir schließen mit einer Wette: Felix Linden wird den Nagel auf den Kopf treffen.