2. Bundesliga
Gummersbachs Kapitän: „Jeder muss seinen Schweinehund überwinden“
Timm Schneider ist ein Kämpfertyp. Er glaubt, dass weniger "Zauber-Handball" dem VfL auf Dauer mehr bringt - und harte Arbeit den Erfolg zurück.

Antreiber: Timm Schneider fordert hundert Prozent – vor allem von sich selbst und dann auch von der Mannschaft. (Foto: Thomas Schmidt)

Es ist nicht seine Art, sich zu verstecken oder vor unangenehmen Situationen wegzulaufen. Timm Schneider ist im vergangenen Sommer auch nicht zum VfL Gummersbach gekommen, um im Oberbergischen nach fünf Jahren beim Bundesligisten MT Melsungen eine ruhigere Kugel zu schieben – im Gegenteil. Er, der als vielseitig verwendbarer Rückraumspieler besonders gerne jene Stellen auf dem Feld aufzusuchen scheint, an denen mitunter schmerzhafte Zweikämpfe fast garantiert sind, war auf der Suche nach einer anderen Herausforderung – nach einem Platz, an dem nicht nur Routine eine Rolle spielt, sondern auch seine Leidenschaft, seine Begeisterung für den Kampf, seine Bereitschaft, eine Führungsrolle einzunehmen. Dass es Gummersbach wurde, das sich selbst als „Heimat des Handballs“ bezeichnet, war am Ende auch kein Zufall. Genau diesen Spielertypen wollten der VfL und sein neuer Trainer Gudjon Valur Sigurdsson für die „Mission Aufstieg“ haben. Nur konsequent: Sigurdsson ernannte den 32-Jährigen sofort zum Kapitän, der oberstes Bindeglied zum Team und erster Ansprechpartner ist. Klar: Beide schätzen einander und beide wollen den maximal möglichen Erfolg. Deshalb leiden beide gerade gemeinsam, denn die Gummersbacher sind in den vergangenen Wochen vom Kurs abgekommen. Nach zwölf Spielen ohne Niederlage gab es zuletzt aus vier Partien ziemlich ernüchternde 2:6 Zähler. Mit dem indiskutablen 25:32 beim TuS Fürstenfeldbruck und dem kaum günstigeren 22:29 beim Spitzenreiter Hamburg ist Gummersbach zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit nicht mehr auf einem von zwei Aufstiegsplätzen zu finden, sondern mit 29:9 Punkten auf Rang drei hinter Hamburg (35:5) und dem TuS N-Lübbecke (29:9). Wie das passieren konnte? Timm Schneider nennt ein paar Ursachen. Und ein ebenso simples Rezept für den Weg zurück zum Erfolg: „Arbeit, Arbeit, Arbeit.“

Schneider, gebürtiger Gießener, fand über die HSG Pohlheim (Oberliga Hessen) den Weg in die Bundesliga: HSG Wetzlar, TV Hüttenberg, TBV Lemgo, MT Melsungen. Dort erlebte er ab 2015 zuerst traumhafte Jahre (Teilnahme am EHF-Pokal), ehe später eine trostlosere Zeit folgte: Timm Schneider, früher immer im linken Rückraum und als Regisseur in der Mitte unterwegs, sah sich zunehmend weniger geschätzt und mit ungewohnten Aufgaben betraut: „Sie haben mich sogar an den Kreis gesteckt.“ Das war unbefriedigend, obwohl Timm Schneider als Teamplayer in Not-Situationen grundsätzlich jede Aufgabe übernehmen würde – selbst im Tor. Gerade diese Gefahr besteht momentan jedoch nicht, weil Matthias Puhle, nach der offiziellen HBL-Statistik der stärkste Keeper der 2. Bundesliga, und Diogo Valerio auf dem Posten zwischen den Pfosten ein sehr zuverlässiges Gespann bilden – was Schneider zu schätzen weiß. Das gilt genauso für die gesamte Atmosphäre im Oberbergischen, wo er sich mit Frau Mona und Sohn Pepe längst heimisch fühlt. Die Gegend wirkt überschaubar: „Großstadt ist nicht so mein Ding.“ Umso mehr ist es sein Ding, den an Tradition reichen VfL Gummersbach nach vorne zu bringen. 

Drei Männer, ein Ziel: Kapitän Timm Schneider, Torhüter Matthias Puhle und Trainer Gudjon Valur Sigurdsson wollen mit dem VfL in die Bundesliga aufsteigen. (Foto: Thomas Schmidt)

Die Zusammenfassung zur aktuellen Lage beweist erneut, dass Timm Schneider weder als Schönspieler noch als Beschöniger gilt: „Dass wir im Moment scheiße spielen, sieht ein Blinder.“ Schon der Start ins neue Jahr war mit dem 28:25 über den EHV Aue wenig überwältigend, ehe das 37:30 bei der stark gefährdeten HSG Konstanz als Pflichtsieg galt. Das 28:29 gegen den TV Großwallstadt, die erste Heimniederlage überhaupt in der 2. Bundesliga, schien der VfL beim 31:29 gegen den VfL Lübeck-Schwartau trotz einer unnötig spannenden Schlussphase wenigstens halb überwunden zu haben. Doch es wurde eher schlimmer und vor allem die 25:32-Pleite in Fürstenfeldbruck traf die Gummersbacher tief. Nichts war hier zu sehen von der Souveränität eines Titelkandidaten, der sich einigermaßen blamierte und nicht nur zwei wichtige Punkte verlor, sondern in der 37. Minute auch Rückraumspieler Alexander Hermann (Gesichtsverletzung). Klar: Der Österreicher wird lange fehlen und sicher an allen Ecken und Enden. Ob der VfL aber mit ihm die Wende in Fürstenfeldbruck geschafft hätte? Eher nicht, weil es zum Zeitpunkt des Hermann-Unglücks bereits 14:20 hieß. In Hamburg war allerdings klar zu erkennen, wie wichtig der 28-Jährige hinten und vorne ist. Ohne Hermann sahen die Aktionen des VfL oft reichlich harmlos aus.

Für Timm Schneider fast zu sehr in Vergessenheit geraten: Zwei fest für den Rückraum eingeplante junge Spieler (22) standen gar nicht oder höchstens sehr eingeschränkt zur Verfügung. „Es war mit ein Problem, dass uns Luis Villgrattner und Fynn Herzig weggebrochen sind“, findet Schneider. Der eine (Villgrattner) hatte in dieser Saison noch gar keinen Einsatz, der andere muss seit November 2020 passen. Dadurch habe sich gegen Ende des Jahres bei anderen ein erhöhter Kräfteverschleiß bemerkbar gemacht – weil die Möglichkeiten, das zur Verfügung stehende Personal dosierter einzusetzen, eingeschränkt blieben. Daraus wiederum habe sich eine Art Teufelskreis ergeben: „Am Anfang sind wir mit schwierigen Situationen ganz anders umgegangen. Später findest du immer schlechtere Lösungen und dann ist das Selbstbewusstsein im Eimer.“ Sehr lange wirkte es im Herbst tatsächlich so, dass nichts – und damit auch eine schlechte Phase im Spiel – den Gummersbachern etwas anhaben kann. So war es etwa bei jener Serie von neun Siegen hintereinander, als der VfL beinahe unantastbar zu sein schien – zumal er selbst die Duelle mit den Aufstiegskonkurrenten Hamburg (26:25) und N-Lübbecke (27:24) zu seinen Gunsten entscheiden konnte. Es gab für fast alles eine Lösung – und in der Regel die richtige. Insgesamt muss sich ausgerechnet der einstige Gummersbacher Trainer Emir Kurtagic, der heute beim TuS N-Lübbecke die Verantwortung trägt, bestätigt fühlen: „Gummersbach ist in der Spitze stärker, aber wir vielleicht in der Breite. Wir werden sehen, welche Herangehensweise sich durchsetzt.“ Insgesamt sind sie jedoch in Hamburg, Lübbecke und Gummersbach einer Meinung: „Es ist eigentlich noch nicht viel passiert. Die Saison ist noch sehr lang und es kann noch eine Menge passieren.“

Ziemlich klare Vorstellungen hat Timm Schneider davon, wie es weitergehen soll bei den Gummersbachern, die ihre nächste Partie am 20. März beim TV Hüttenberg bestreiten. Grundsätzlich bescheinigt der Mannschaftsführer allen Teamkollegen, das gemeinsame Ziel erreichen zu wollen und sich dafür einzusetzen. Den Vorwurf von Überheblichkeit oder einem Mangel an Identifizierung würde er glatt für absurd halten. Trotzdem müssten jetzt alle noch einmal in sich gehen. „Jeder muss seinen eigenen Weg finden“, betont Schneider, „jeder muss den eigenen Schweinehund überwinden.“ Ob er bei sich selbst mit der Eigenkritik anfängt? „Klar“, sagt der Regisseur, „ich gehe jedes Spiel noch mal für mich durch.“ Soll heißen: Da entdeckt er genug, was er so nicht von sich sehen mag. 

Im Einsatz: Timm Schneider (Mitte) sucht zur Not auch den Weg durch eine Lücke, die er sich erst noch schaffen muss. (Foto: Thomas Schmidt)

Seinem Trainer bescheinigt Schneider im Übrigen trotz der jüngsten Durststrecke, dass er gute Arbeit leistet. Und er sieht den einstigen Weltklasse-Handballer Sigurdsson auf seiner ersten Station als Coach keineswegs als den großen „Schweiger“, der die Dinge an der Seitenlinie bisweilen mit erstaunlicher isländischer Ruhe wegsteckt: „Wenn du in die Kabine kommst, sieht das schon anders aus.“ Der Weg zur alten Form wird seiner Ansicht nach letztlich nur passen, wenn sich alle auf das Wesentliche konzentrieren – und zum Beispiel auf die Versuche verzichten, etwas Besonderes zu kreieren. Schneider nennt keine Namen – braucht er aber auch nicht. Er muss Szenen wie bei der Niederlage in Hamburg meinen, als die Gummersbacher an den falschen Stellen nicht selten zu den falschen Mitteln griffen. Janko Bozovic probierte beim Stande von 13:22 (42.) einen Siebenmeter-Heber – und scheiterte. Raul Santos probierte beim Stande von 14:23 (45.) einen Siebenmeter-Heber – und scheiterte ebenfalls. „Wir müssen weniger Zauber-Handball spielen“, meint Schneider, „was uns hilft, ist Arbeit, Arbeit und noch mal Arbeit. Wir müssen alle an einem Strang ziehen und jeder muss bereit sein, sich den Arsch aufzureißen.“ So spricht keiner, der sich verstecken oder sich der Verantwortung in der gerade nicht so angenehmen Lage entziehen will. Timm Schneider wollte genau diese Herausforderung – und er hat sie bekommen. In Hamburg oder N-Lübbecke werden sie ihm vermutlich sowieso zustimmen. Die Saison ist noch sehr lang und es kann noch eine Menge passieren.