3. Liga Mitte
Wolfs Wahnsinn: Vom Lockdown in die Bundesliga
Christopher Wolf, Abwehrchef des Drittligisten Longericher SC, bekam einen Anruf des Essener Trainers Jamal Naji. Danach ging alles ziemlich schnell.

Hoch, höher Wolf: Wer über oder durch die Longericher Deckung mit Christopher Wolf (Mitte) kommen wollte/will, musste/muss sich viel einfallen lassen. Ähnliches hat Wolf auch in Essen vor. (Foto: Thomas Schmidt)

Es ist ein bisschen wie die Geschichte von einem, der vom Tellerwäscher zum Millionär wird. Natürlich: Weder müssen sie beim Longericher SC im Gegenzug für ihre Bezüge Geschirr reinigen, noch verdienen sie bei TuSEM Essen so viel Geld, dass sie finanziell ausgesorgt haben. Es bleibt trotzdem ein Märchen und selbst Christopher Wolf muss sich manchmal kneifen – um zu spüren, dass es wirklich stimmt, dass er wirklich ganz oben angekommen ist und wirklich in der obersten Etage des deutschen Handballs mitmischt. Die Kurzformel für eine Entwicklung aus der Kategorie „Karriere des Jahres“: Aus dem Lockdown in die Bundesliga. Vor zwei Wochen ahnte der 28-Jährige nicht mal, was auf ihn zukommen würde. Seine Longericher befinden sich in der 3. Bundesliga seit Monaten in der coronabedingten Zwangspause und die Verantwortlichen haben vor Kurzem erklärt, dass für sie die Saison komplett beendet ist – keine Teilnahme an der Aufstiegsrunde, keine Teilnahme an sonstigen Spielen wie etwa der Qualifikation für den DHB-Pokal. Im Ruhrgebiet wurden gleichzeitig die personellen Sorgen des mit Leidenschaft um den Klassenerhalt kämpfenden Aufsteigers immer größer. Dann kam die Nachricht, dass sowohl der junge Laurenz Kluth (18) als auch Dennis Szczesny (27), einer der wenigen erfahreneren Spieler im Kader, aufgrund von Verletzungen für einige Wochen ausfallen. Und nun machte sich bezahlt, dass Essens Trainer immer für kreative Lösungen gut ist. Jamal Naji durchforstete seinen persönlichen Ideen-Schatz und landete nicht viel später bei Wolf – den Naji von früher kannte. Der Rest ging schnell: Ein Anruf, ein paar Gespräche, eine Vereinbarung. Und fertig war das Paket. Christopher Wolf, beim LSC der Abwehrchef, hilft bei den Essenern aus. Sein Urteil: „Es ist überwältigend.“

Jamal Naji steht nicht im Verdacht, jemandem aus Gefälligkeit das Abenteuer Bundesliga zu ermöglichen. Doch der seit dem Sommer 2020 für die Essener tätige Coach wusste sehr genau, auf was er sich einlässt – weil er sich mehrmals selbst von den Qualitäten Wolfs überzeugen konnte. Naji war damals in der alten Oberliga Mittelrhein zu seiner aktiven Zeit die Schaltzentrale des heutigen Regionalligisten HSG Siebengebirge – und Wolf beim später in die 3. Liga aufgestiegenen Longericher SC für die Organisation der Abwehr verantwortlich. Naji, der zudem vor vielen Jahren mit Wolf zusammen in einem C-Trainer-Lehrgang saß, erinnert sich: „Er hat immer hart und sehr konsequent gedeckt.“ Also griff der TuSEM-Trainer zum Smartphone und stellte dem einstigen Gegenspieler die Fragen aller Fragen: „Kannst du dir das vorstellen? Hast du Lust? Traust du dir das zu?“ Christopher Wolf, der gerade zum Lauftraining aufbrechen wollte, war – vorsichtig ausgedrückt – zunächst sehr überrascht: „Ich konnte es gar nicht glauben.“ Trotzdem zögerte er nicht, denn Lust und das nötige Selbstvertrauen konnte er sofort bestätigen. Dann musste er „nur“ noch mit den Longericher Verantwortlichen und seinem aktuellen Arbeitgeber sprechen. Alle gaben grünes Licht. Und so stand fest, dass Wolf bald in der Bundesliga vor Anker gehen würde.

Am Samstag vor eine Woche trainierte er zum ersten Mal mit den neuen Teamkollegen, die ihm den Einstieg einfach machten. „Ich bin toll aufgenommen worden“, berichtet Christopher Wolf, „die Jungs sind alle super nett und haben einen tollen Teamgeist.“ Mühelos war der Einstieg trotzdem nicht, obwohl sich Wolf selbst in der Pause körperlich in Schuss gehalten hatte – nicht online oder virtuell, sondern in der Wirklichkeit. Punkt eins: Übungen für Athletik und Ausdauer. Punkt zwei: Arbeiten für einen Fliesen-Fachbetrieb/Trockenbauer, um die Phase der beruflichen Umorientierung sinnvoll zu nutzen. Was ihm beides nicht zeigen konnte: Wie sehr sich der Bundesliga-Handball in Sachen Tempo und Technik von dem in der 3. Liga unterscheidet. „Das geht alles viel schneller. Es ist super, wie die Jungs das machen“, betont Wolf, der sich mit Volldampf in seine neue Aufgabe stürzte. Das wiederum passt zu seinem Berufswunsch: „Ich will zur Feuerwehr.“ Um im Bild zu bleiben: Den Essenern kann er nun helfen, eine paar personelle Brandstellen zu löschen. TuSEM Essen hat seinen Feuerwehrmann schon.

Trainer Naji war sowieso von Anfang an überzeugt, die richtige Lösung gefunden zu haben: „Ich kannte Christopher Wolf ja vorher schon. Ich durfte früher auch einige Male gegen ihn spielen. Da habe ich noch in Erinnerung, dass er immer ein sehr harter Verteidiger war, sehr aggressiv und gallig verteidigt hat. Wir haben zwei, drei Jahre gegeneinander gespielt. Dadurch, dass die Wechselfrist vorbei war, durften wir nur noch vertragslose Spieler holen. Und da war Christopher Wolf tatsächlich mein erster Gedanke. Zum Glück hat Longerich direkt mitgespielt und Christopher hat direkt gesagt, dass er da großen Bock drauf hat. Wir arbeiten ihn gerade sukzessive ein.“ Dieser besondere Teil des Handball-Märchens wurde in der Partie gegen den TVB Stuttgart kurz vor der Pause wahr: Seit Samstagabend, 20. März, 21 Uhr, darf sich der Rückraumspieler, dessen Herz seit einer Ewigkeit für den LSC schlägt, Bundesligaspieler nennen. Gäste-Coach Jürgen Schweikardt nahm nach 24:22 Minuten eine Auszeit, weil er mit dem Auftritt der Stuttgarter beim Stande von 11:7 für Essen nicht zufrieden war. Als es kurz darauf weiterging, ist Christopher Wolf nicht mehr Zuschauer auf der Bank. Jamal Naji hat ihn ins kalte Wasser geworfen.

Du bist mir einer! Ex-Kapitän Tim Hartmann (rechts), der vor Kurzem aus Longerich zum HC Gelpe/Strombach in die Regionalliga gewechselt ist, drückt dem ehemaligen Teamkollegen Christopher Wolf für dessen Ausflug in die Bundesliga definitiv auch die Daumen. (Foto: Thomas Schmidt)

Sollte der Neue in der Halle Am Hallo nur eine Spur aufgeregt gewesen sein, zeigt er es jedenfalls nicht. „Ich bin selten nervös“, sagt Wolf, „und sobald du auf die Platte gehst, vergisst du alles andere.“ Mit seinen Einsätzen, die sich im Laufe des Abends auf insgesamt rund zehn Minuten addieren, kann der Bundesliga-Debütant sehr zufrieden sein. Sein Coach stellte ihm sogar ein überdurchschnittlich gutes Zeugnis aus: „Das ist seine Aufgabe, er soll uns im Spiel für zehn bis 15 Minuten entlasten im Innenblock. Gegen Stuttgart hat er das fehlerfrei gemacht, ich habe mir das gerade noch mal angesehen. Bei zwei Würfen sorgt er sogar dafür, dass der Fernwurfspieler im letzten Moment einen Kontakt bekommt und dadurch der Wurf eine Streuung. Dementsprechend war das für den Torhüter einfacher zu halten. Ich bin wirklich sehr zufrieden. Er hat sich in kürzester Zeit in die Mannschaft integriert und einen sehr guten Draht zu den Jungs entwickelt. Das macht Freude.“ Wenn es ein Zeugnis wäre, das Eltern für ihr Kind als empfangen bestätigen müssten: Diese Unterschrift müsste ebenfalls viel Freude machen.

Christopher Wolf war nach eigener Darstellung weder vor seiner Premiere noch danach besonders aufgeregt: „Ich kann gut abschalten und ich habe gut geschlafen.“ Klar, dass sein Umfeld aus Familie, Freunden und Mitspielern in Longerich mitgefiebert hat: „Mein Smartphone ist explodiert.“ Daran wird sich vorläufig wenig ändern, weil es die kommenden Aufgaben in der auf acht Spiele befristeten Vereinbarung (Essen hofft, dass dann die Verletzten wieder zur Verfügung stehen) durch die Bank in sich haben – jetzt erst recht, weil sich TuSEM durch das 27:20 gegen Stuttgart ans rettende Ufer herangerobbt hat und auf Rang 18 bei 9:33 Punkten bloß zwei Zähler hinter HBW Balingen-Weilstetten (11:31) auf dem rettenden Platz 16 liegt. Es warten für den Abstiegskampf zentral wichtige Aufgaben wie die nächste am kommenden Sonntag bei der HSG Nordhorn-Lingen (Rang 17/10:32) und jene für den 22. April angesetzte in Balingen. Und es wartet die eine oder andere Aufgabe aus der Kategorie: „Genieß es.“ Der manchmal flexibel gehandhabte Terminplan führt momentan für den 15. April das Heimspiel gegen den aktuellen Spitzenreiter SG Flensburg-Handewitt, dessen schwedischer Regisseur Jim Gottfridsson und Linksaußen Hampus Wanne bei der jüngsten WM in Ägypten ins Allstar-Team gewählt wurden. Zentraler Abwehrmann bei den Flensburgern ist der deutsche Nationalspieler Johannes Golla und unter dem Strich gibt es über die Favoritenrolle kaum längere Diskussionen. Was das konkret für Christopher Wolf bedeutet? Er könnte es mit Gottfridsson zu tun bekommen, falls der den Weg über oder durch die Deckung sucht – was nicht selten der Fall ist. Und er könnte es mit Johannes Golla zu tun bekommen, der seinen Arbeitsplatz im Angriff genau dort hat, wo Wolf mithelfen soll, Beton anzurühren. Was ist das bloß für eine Karriere? Aus dem Wohnzimmer gegen Jim Gottfridsson und andere Größen des Handballs.

Was die Beteiligten wohl machen, wenn das Abenteuer Bundesliga ein Happy End bringt? Was geschieht, wenn sich Christopher Wolf durch überragende Leistungen in den Vordergrund spielt und für eine weitere vertragliche Bindung empfiehlt? Wolf gibt eine Antwort selbst: „Ich habe dem LSC zugesagt.“ Außerdem nimmt er zwar den mittlerweile ziemlich realen Traum gerne mit, bleibt jedoch lieber mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen. „Unter normalen Umständen gehöre ich da nicht hin“, findet Wolf, der damit genau die Bundesliga meint. Klar: Ohne das Verletzungspech der Essener hätte sich die Gelegenheit kaum ergeben. Außerdem sieht er eine Profi-Laufbahn für sich selbst sowieso nicht mehr: „Dafür bin ich zu alt.“ Tatsächlich ist er mit 28 sogar der älteste Feldspieler der Essener, in deren sehr jungem Kader lediglich Torhüter Sebastian Bliß die 30 Jahre erreicht. Vom Lockdown zum Bundesliga-Oldie: Die Geschichte wird immer verrückter.