23. April 2021 | Zurück zur Artikelübersicht » |
Er wirkt unaufgeregt. Er ruht in sich selbst. Wahrscheinlich hilft ihm hier tatsächlich seine unfassbar erfolgreiche Karriere als Spieler. Da war der Weltklasse-Linksaußen Gudjon Valur Sigurdsson ja ohne Zweifel einer der ganz Großen des Handballs. Und vielleicht wäre der Isländer, den alle Welt im Sport lieber „Goggi“ nennt, sogar noch an der Seite des dänischen Superstars Mikkel Hansen beim französischen Top-Klub Paris St. Germain dabei, die letzten Meter eines letzten Vertrages zu erfüllen. Corona hat dann aber dazu geführt, dass Sigurdsson seine Idee, irgendwann die Seite zu wechseln, einfach etwas früher umzusetzen begann. Und mittlerweile ist es schon mehr als ein Jahr her, dass ein anderer großer Name den Zuschlag bekam. Seit dem Sommer 2020 ist „Goggi“ der Trainer des VfL Gummersbach, den er definitiv lieber gestern als heute aus der 2. Bundesliga zurück in die 1. Bundesliga führen soll. Ob das gelingt, ist allerdings noch lange nicht sicher: Hinter dem Handball Sport Verein Hamburg (42:10 Punkte) und dem TuS N-Lübbecke (40:12) liegt der VfL (39:13) aktuell auf dem dritten Platz – der am Ende nicht zum Sprung reichen würde. Zuletzt schienen zudem ernsthafte Zweifel angebracht zu sein, ob die Mannschaft dazu überhaupt in der Lage ist.
Die 24:28-Niederlage bei der DJK Rimpar Wölfe und die 25:27-Pleite beim Nachbarn TuS Ferndorf sorgten für Unruhe und zum Teil hämische Kommentare im einen oder anderen digitalen Netzwerk. Sigurdssons Markenzeichen: Er stellt sich konsequent auf die Seite seiner Spieler, er bewegt sich auf einer Stufe mit ihnen – und nicht als übergeordneter Vorgesetzter. „Auch Fans haben das Recht auf Kritik, wenn sie unzufrieden sind“, betont Sigurdsson auf der anderen Seite, „Kritik kann sogar sehr nützlich sein.“ Für angebracht hielt er sie nach den beiden oben erwähnten Rückschlägen sowieso: „Natürlich haben wir da schlecht gespielt.“ Und ebenfalls klar: Auch „Goggi“ war erleichtert darüber, dass die Gummersbacher am Mittwochabend im Rückrunden-Duell mit den Wölfen durch einen 33:23-Erfolg ein Stück weit Rehabilitierung betreiben und den Hut für den Aufstiegskampf wieder in den Ring werfen konnten. Die Vorgabe fürs zweite Duell mit Ferndorf am Samstag in der Schwalbe-Arena ergibt sich von selbst: „Ich erwarte auch da eine Reaktion.“
Beim Amtsantritt im vergangenen Sommer machte Sigurdsson ein paar Dinge klar. Ein Thema ist die vom Verein ins Leben gerufene „Mission Aufstieg“ – für die der 41-Jährige direkt eine Einschränkung vorlegte: „Klar wollen wir so weit wie möglich oben landen. Aber ich kann nicht sagen, wo wir am Ende des Jahres oder am Ende der Saison stehen.“ Das mit dem Ende des Jahres hat sich inzwischen erledigt, denn damals lag der VfL mit 22:2 Zählern als Zweiter zumindest gedanklich sogar vor dem Handball Sport Verein Hamburg (24:4) und tatsächlich auch vor dem TuS N-Lübbecke (18:8). Die bekannte Gummersbacher Durststrecke mit fünf Niederlagen seit der Fortsetzung der Meisterschaft im Februar hat vieles verändert – und Sigurdsson im Grunde eher bestätigt: „Ich weiß immer noch nicht, was am Ende dieser Saison herauskommt.“ Ganz fest ist jedoch davon auszugehen, dass er sich nicht dagegen wehren würde, wenn es zum Aufstieg in die oberste Etage des deutschen Handballs reichen sollte. Für ihn ist es unabhängig davon ein Privileg, auf diesem Niveau arbeiten zu dürfen. Und er ist nach wie vor mit Leib und Seele Gummersbacher: „Ich bin sehr zufrieden mit dem Klub.“ Besonders viel habe der Verein in dieser auch wirtschaftlich alles andere als einfachen Zeit seinem Geschäftsführer Christoph Schindler zu verdanken („Hat überragende Arbeit geleistet“).
Auffällig nach zwei Dritteln der Serie 2020/2021 ist das (Miss-)Verhältnis zwischen Heim- und Auswärtsspielen: In der Schwalbe-Arena gab es bei bislang 14 Auftritten neben dem 28:29 gegen den TV Großwallstadt noch 13 Siege – darunter das 26:25 gegen Hamburg und das 27:24 gegen Nettelstedt. Mit 26:2 Punkten liegt Gummersbach in der Heimtabelle vor Hamburg (24:4) und dem TuS (19:7). Die Auswärts-Statistik bescheinigt Sigurdssons Mannschaft auf der anderen Seite fast nur Mittelmaß: Rang fünf (13:11 Punkte) mit einem deutlichen Rückstand auf Nettelstedt (21:5) und Hamburg (18:6). Eine Niederlage wie jenes 22:29 in der Hansestadt wiegt ebenfalls einigermaßen schwer, doch andere Pleiten lasten nahezu tonnenschwer auf dem Gummersbacher Konto – 25:32 beim TuS Fürstenfeldbruck, 24:28 bei DJK Rimpar Wölfe, 25:27 beim TuS Ferndorf. Durchgängiges Manko: Es fehlten nicht nur immer wieder wichtige Stammkräfte wie Rückraumspieler Alexander Hermann, Kreisläufer Ellidi Vidarsson oder Keeper Matthias Puhle, sondern auch Ideen und – am wichtigsten – die nötige Leidenschaft. Typisch für Sigurdsson: Natürlich war er jeweils enttäuscht (und teilte das intern unmissverständlich mit), aber er zog die Schuld für die Leistungen auf sich: „Natürlich bin ich dafür verantwortlich, wenn ich den Spielern etwas nicht vermitteln kann. Wer denn sonst?“ Gudjon Valur Sigurdsson, der sich ständig selbst hinterfragt, nimmt damit viel Last von den Schultern seiner Spieler – was die eine Seite der Medaille ist. Die andere: Er übergibt ihnen gleichzeitig die Aufgabe, den Vertrauens-Vorschuss mit Leistung zurückzuzahlen. Eine der Raten war zum Beispiel die 33:23-Revanche am Mittwochabend gegen die Rimpar Wölfe.
Da konnte Sigurdsson unter anderem zufrieden feststellen, dass ein für ihn zentral wichtiger Aspekt des Handballs in Gummersbach grundsätzlich auf Top-Niveau möglich ist: „Unser Tempospiel haben wir gut entwickelt.“ Klar: Einer wie er brauchte auf dem Feld nie lange nachzudenken, wann es schnell nach vorne gehen sollte. Bei Sigurdsson war das rasche Umdenken von Angriff auf Abwehr fast eine instinktgesteuerte Handlung – selbst im fortgeschritteneren Alter so stark ausgeprägt wie am Anfang der Karriere. Dann sah er gegen die Wölfe das: Hinten eroberte die Deckung den Ball und vorne versenkte Raul Santos das Spielgerät ein paar Sekunden darauf zum 11:9 (23.). Ähnliches und ein paar Wiederholungen mehr könnte sich der VfL-Coach nun auch fürs zweite Duell innerhalb einer Woche mit den Ferndorfern vorstellen. „Ich habe den Eindruck, dass sich die Jungs voll reinhängen“, sagt Sigurdsson, der von seiner Mannschaft überzeugt ist. Am Ende wäre ihm bei aller Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Kritik („Habe ich kein Problem mit“) selbstredend eine Bestätigung des erfreulichen Mittwochs deutlich lieber. Dann bräuchte er keine Erklärungen zu liefern außer der Feststellung: „Wir haben wieder besser gespielt. Die Mannschaft sollte immer im Vordergrund stehen. Ich stehe lieber in der Halle.“ So ist es, wenn einer in sich selbst ruht. Das ist unaufgeregt. Das ist „Goggi“.