1. Bundesliga
Die „Zebras“ kommen: Lucas Firnhaber und seine große Liebe
Der Rückraumspieler trifft am Sonntag auf seinen alten Verein THW Kiel. In Essen ist der 24-Jährige längst eine zentrale Stütze.

Ich werf dann mal drüber: Lucas Firnhaber (Nummer 26) hat einen guten Blick dafür, ob die eigene Chance oder eine für seinen Kreisläufer Tim Zechel (96) größer ist. (Foto: Thomas Schmidt)

Das Beste am Norden ist? Na klar: Der THW Kiel. Für Lucas Firnhaber jedenfalls. „Das ist der größte Verein der Welt“, sagt der lange Rückraumspieler, der einst von Buxtehude aus loszog, um die Handball-Welt zu erobern. Und der 24-Jährige muss es wissen. Über die Anfänge beim Buxtehuder SV, beim TV Mascherode, beim MTV Braunschweig und bei Eintracht Hildesheim kam er 2013 in die Jugend des Turnvereins Hassee-Winterbek ins Handball-Mekka an der Ostsee. Ab Januar 2016 gehörte er zusammen mit seinem heute für den HC Erlangen tätigen älteren Bruder Sebastian (26) zum Kieler Bundesliga-Kader. Lucas stand gleichzeitig per Zweitspielrecht im Aufgebot des kaum 15 Kilometer entfernt angesiedelten Drittligisten TSV Altenholz und er hatte ein echtes Problem. Die Hoffnung, sich zwei Klassen tiefer sportlich weiterzuentwickeln, ging aus verschiedenen Gründen nicht richtig auf. Gleichzeig war die Kieler Konkurrenz unfassbar groß: An Top-Leuten wie Marko Vujin oder Steffen Weinhold vorbeikommen? Fast unmöglich in einem Klub, der auch international sehr erfolgreich ist und alles an zu gewinnenden Trophäen im Schrank stehen hat. Guter Rat war allerdings nicht lange teuer, denn Firnhaber entsprach ziemlich genau dem Anforderungsprofil, das einige hundert Kilometer weiter südlich ein anderer Traditionsverein verteilt hatte: Linkshänder, jung, ehrgeizig, entwicklungsfähig. Also beschloss Lucas Firnhaber im Sommer 2018, den Sprung zu wagen und ins Ruhrgebiet zu gehen. „Ich habe die Chance gesehen, viel zu spielen“, sagt der Zwei-Meter-Mann, „nach einem Probetraining und Gesprächen mit Jaron Siewert habe ich dann nicht lange gezögert.“

Der weitere Verlauf hat was Atemberaubendes: Im ersten Jahr standen nach 38 Spielen immerhin 91 Tore auf dem persönlichen Konto des Neu-Esseners und 45:31 Punkte brachten TuSEM damals Rang sechs in der Abschluss-Tabelle der vollständigen Serie 2018/2019, ehe die Saison darauf coronabedingt nur auf 24 Spieltage kam. Weil Essen zum Zeitpunkt des Abbruchs mit 34:14 Zählern auf dem zweiten Rang stand, wurde die Mannschaft zusammen mit dem Meister HSC Coburg (37:11) über die Quotientenregelung in die Bundesliga befördert – zum Teil sogar zur eigenen Überraschung. Firnhaber steuerte 76 Treffer bei und hatte damit einen ersten Traum verwirklicht. Er war in der Bundesliga angekommen und er sah sich in seiner Leidenschaft bestätigt: „Ich bin sehr ehrgeizig und ich liebe diesen Sport.“ Dem ordnet er fast alles unter, ohne anderes völlig zu vernachlässigen: Das Thema Ernährung ist ihn wichtig und ein Fern-Studium (Sportmanagement),  angepasst an die zeitlichen Möglichkeiten, sorgt für Themen ein bisschen abseits des handballerischen Berufs-Alltags.

Nach Siewerts Wechsel zu den Füchsen Berlin kam ein anderer Trainer in die „Ruhrpott-Schmiede“ – und einer, der die Arbeit mit jungen Spielern wie ganz wenige beherrscht. Jamal Naji (34), vorher Jugend-Koordinator und A-Jugend-Trainer beim TSV Bayer Dormagen, beschritt zusammen mit Firnhaber und einem insgesamt sehr jungen Team echtes Neuland. Für beide (und andere) war es die Premieren-Saison in der Bundesliga. Und schnell stand fest: Lucas Firnhaber würde unter der Anleitung von Jamal Naji den nächsten Karriere-Schritt machen können. 

Ich hör dann mal zu: Lucas Firnhaber (Vierter von links) und seine Essener nehmen Anregungen ihres Trainers Jamal Naji (dunkles Shirt) meistens sehr aufmerksam entgegen. (Foto: Thomas Schmidt)

Von Anfang an stand beim Aufsteiger fest: Wir lassen uns drauf ein, wir stürzen uns als krassester möglicher Außenseiter in die fast unlösbare Aufgabe, irgendwie die für den Klassenerhalt nötigen Punkte zu sammeln. Den Sprung ans rettende Ufer zur Pflicht zu machen, verbot sich von selbst angesichts des extrem jungen Kaders, dessen Spieler beim Start in die Saison im Durchschnitt gerade mal ein bisschen mehr als 22 Jahre alt waren. Mittendrin: Lucas Firnhaber, dem mit damals 23 auf jeden Fall eine besondere Rolle zufallen würde. Na klar: Auf seine Treffer und allgemein die Gefahr aus dem rechten Rückraum würde Essen dringend angewiesen sein. Viele andere Spieler, die in engen Situationen über die Abwehr werfen können, hat TuSEM nicht – im Gegenteil. Teamkollegen wie Justin Müller oder Eloy Morante Maldonado kommen eher über ihre Schnelligkeit. 

Sie alle eint das Ziel, das fast Unmögliche doch möglich zu machen. Ob das Kunststück wirklich gelingen kann? Die Zweifel sind in dieser Woche sicher wieder ein Stück größer geworden – trotz der Gala am 15. April im Heimspiel gegen den Spitzenreiter SG Flensburg-Handewitt, als der Außenseiter den hohen Favoriten sehr dicht am Rande einer Niederlage hatte (28:29) und der Wurf von Lucas Firnhaber zum möglichen Ausgleich nur eine knappe Sekunde nach der Schluss-Sirene im Netz landete. Schönheitsfehler: Für das dicke Lob von allen Seiten für eine tolle Vorstellung konnten sich die Essener anschließend nichts kaufen, weil sie das für den weiteren Abstiegskampf zentral wichtige Duell bei der HBW Balingen-Weilstetten mit 28:31 verloren und nun sechs Zähler hinter den Balingern liegen, die auf Rang 16 den ersten rettenden Platz einnehmen. Was trotz allem weiter für Essen spricht: Die Mannschaft verfügt über eine intakte Moral. Chefcoach Jamal Naji und sein Co-Trainer Michael Hegemann verstehen es immer wieder, TuSEM perfekt auf die nächste Aufgabe vorzubereiten.

Von Lucas Firnhaber hält Naji eine Menge – nicht nur deshalb, weil der Linkshänder mit 99 Treffern der beste Feldtorschütze der Essener ist. Linksaußen Noah Beyer liegt mit 122 Toren zwar noch etwas besser, war aber „nur“ 68 Mal aus dem Feld sowie 54 Mal bei Siebenmetern erfolgreich. „Lucas ist ein maximaler Musterprofi“, erklärt Naji, „von der Arbeitsmoral, von der Einstellung und vom Ethos her. Ich habe selten einen Spieler gesehen,  der so wissbegierig ist wie er.“ Und weil das so sei, komme Firnhaber auch Stück für Stück auf seinem Weg voran: „Natürlich ist das, wie bei jedem jungen Spieler, eine wellenförmige Entwicklung. Bei der Wurf-Auswahl hat er sich zum Beispiel stark verbessert.“ Die Übersetzung: Lucas Firnhaber ist bei TuSEM jetzt der Entscheidungsspieler – also  jener, der unter anderem ansagt, wie eine Überzahl-Situation gelöst werden soll. Dass Firnhaber ein Auge für die Situation mitbringt und alle Teamkollegen wie Außen oder Kreisläufer durch gute Anspiele in Szene setzen kann, macht ihn doppelt wertvoll. „Er kann Handball denken“, findet Naji. Ausgerechnet jene Eigenschaft scheint dem Ex-Kieler allerdings hin und wieder im Weg zu stehen – weil er praktisch jede einzelne Szene, an der er beteiligt war, für sich nacharbeitet. „Lucas muss nicht jede Kleinigkeit zerdenken“, betont sein Trainer. 

Als ganz große Belastung empfindet Firnhaber seine Rolle in der Bundesliga allerdings überhaupt nicht. „Das erste Jahr hat uns auch schon sehr viel Erfahrung gegeben“, sagt der Rückraumspieler, „das sind Erfahrungen, die uns keiner mehr nehmen kann. Ich fühle mich inzwischen deutlich sicherer und ich weiß, dass ich vorne Entscheidungen treffen muss.“ Dass er sich selbst nicht als den „talentiertesten Spieler“ sieht, mag ja eine zutreffende Einschätzung sein. Dass er noch vorhandene Schwächen in der Defensiv-Arbeit erkennt, spricht für zusätzliche Bodenhaftung. Dass die reine Wurfausbeute von knapp unter 50 Prozent ausbaufähig ist, kann Firnhaber in den offiziellen HBL-Statistiken nachlesen. Dass er es auch tut, passt zur intensiven Beschäftigung mit der eigenen Leistung nach jeder Partie. Einer seiner Lieblingsgegner in diesem Bereich der Statistik scheint im Übrigen die MT Melsungen zu sein, gegen die er mit jeweils acht Toren seine Saisonrekorde aufstellte. Kleiner Haken: Weder bei der 28:35-Niederlage im Februar noch beim 31:35 am 8. April blieb viel für die Essener hängen. Da hätte Lucas Firnhaber gerne auf jeden Treffer verzichtet, wenn dafür wenigstens zwei Punkte aufs Essener Konto gewandert wären. 

Geschlossener Kreis: Teamgeist und Leidenschaft für den Handball sind zwei Pluspunkte, mit denen sich TuSEM Essen in der Bundesliga durchaus schon viel Anerkennung erarbeitet hat. (Foto: Michael Jäger)

Wann da die nächsten Zähler erscheinen werden? Klar: TuSEM kann jetzt noch drei Mal hintereinander zu Hause antreten, wobei die für den 5. und 8. Mai angesetzten Aufgaben gegen den Bergischen HC (Achter) und den SC DHfK Leipzig (Zehnter) fast aus der Kategorie „Kriegen wir hin“ zu stammen scheinen. In Wirklichkeit wartet auf alle Essener und besonders auf Lucas Firnhaber ein ganz besonderes Wochenende: „Die Zebras“ kommen. Firnhaber, der erst am Donnerstag 24 Jahre alt wurde, trifft am Sonntag mit TuSEM auf „seinen“ THW Kiel. Dem will er natürlich am liebsten ein Bein stellen, zumal rund um die Halle „Am Hall0“ ein festes Prinzip gilt: „Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass wir gewinnen werden. Das ist unsere Chance.“ Die Essener würden zugreifen, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet – die größer wird, falls  alle an ihre Leistungsgrenze kommen. Lucas Firnhaber ist fest entschlossen, seinen Teil auf dem Feld beizutragen. Und nach Ansicht seines Trainers tut er das rund um ein Spiel ebenfalls vorbildlich: „Lucas ist einfach ein guter Mensch, ein super Typ und sehr humorvoll. Er hat Entertainer-Qualitäten.“ Die Essener können sich an dieser Stelle schon mal vorab freuen, denn Firnhaber und Naji werden in der kommenden Saison weiter für TuSEM unterwegs sein – unabhängig von der Liga-Zugehörigkeit. Was danach passiert, mag Firnhaber im Moment noch nicht abschätzen. Aus seinem großen Wunsch macht er aber kein Geheimnis: „Es wäre ein Traum, zum THW Kiel zurückzukehren.“ Sollte das klappen, wüssten die Essener ja, dass sich ihr Spieler großartig weiterentwickelt hat. Und sie würden es ihm wohl alle sehr gönnen. Das Beste ist ja tatsächlich im Norden zu Hause. Ob hier zwingend der THW Kiel gemeint sein muss oder doch die SG Flensburg-Handewitt, ist eine andere Frage.