26. April 2021 | Zurück zur Artikelübersicht » |
Die Frage drängt sich auf an diesem Sonntag, 25. April 2021. Es ist gegen 17.20 Uhr und die Partie gegen den großen THW Kiel gerade vorbei. Kann sich der Außenseiter TuSEM Essen denn wirklich nichts dafür kaufen, dass er sich eben bei seiner 27:31-Niederlage teuer verkauft hat? Es war so ähnlich wie vor knapp zwei Wochen beim 28:29 gegen den Kieler Nord-Rivalen SG Flensburg-Handewitt. Das Team von Trainer Jamal Naji war im Laufe der zweiten Halbzeit vorübergehend drauf und dran, die Sensation einzuleiten. Was fehlte, dürfte im jungen Team vor allem ein Mangel an Routine und Cleverness gewesen sein. Und richtig: Handball ist am Ende ein Ergebnissport. Deshalb drängte das Resultat den TuSEM wieder ein Stück näher an die 2. Bundesliga. Sechs Punkte ist das rettende Ufer inzwischen entfernt – was allerdings hauptsächlich am so nicht zu erwartenden schwachen Auftritt beim Keller-Konkurrenten HBW Balingen-Weilstetten liegt (28:31). Bei noch elf ausstehenden Spielen wird der Weg zum Klassenerhalt weit, vielleicht zu weit. Weil sie das in Essen sowieso von Anfang an wussten, herrscht auch keineswegs Verzweiflung oder eine an Depression erinnernde Stimmung. Während Trainer Jamal Naji die Dinge in einer Hallenecke am Mikrofon des übertragenden Senders einordnete, sprachen die Spieler auf der anderen Seite intern über die verlorene Partie. Trotzdem haben sie dabei was gewonnen. Und das nicht eben wenig.
Der grundlegende Vergleich: Kiel erlaubte sich den Luxus, am Anfang etwa Torhüter Niklas Landin draußen zu lassen. Der Däne ist Welthandballer 2019, Weltmeister, Europameister, Olympiasieger, Champions-League-Sieger, Deutscher Meister. Auf der Bank neben ihm saßen unter anderem Domagoj Duvnjak (Welthandballer 2013), der schwedische Vizeweltmeister Niklas Ekberg sowie die deutschen Nationalspieler Patrick Wiencek und Steffen Weinhold. Kiels Coach Filip Jicha hatte eine Auswahl auf der Bank, die jeder Kollege sofort nehmen würde – vermutlich sogar als erste Sieben. „Die können jederzeit ohne Qualitätsverlust wechseln“, sagte Essen Trainer Naji. Auf der einen Seite schwang leise Enttäuschung darüber mit, dass es trotz des höchsten möglichen Einsatzes nicht gereicht hatte, auf der anderen Stolz über den couragierten Auftritt: „Wir haben uns nicht das Geringste vorzuwerfen.“ Der Mut zu kreativen Lösungen wurde unter anderem bei vier Toren per Kempa-Trick deutlich. Selbst in der entscheidenden Phase beim Stande von 24:26 passte Rechtsaußen Dimitri Ignatow hoch auf die andere Seite zu Linksaußen Noah Beyer – der auf 25:26 verkürzte (51.). Jicha erkannte die Gefahr, dass der THW im Titelkampf vom Kurs abzukommen drohte. Dass er eine Auszeit nehmen musste, war eine Art Ritterschlag für die Essener. Mit seinem Spielwitz und seiner Leidenschaft hat TuSEM ohnehin längst bewiesen, dass es eine Bereicherung für die Bundesliga ist.
Für die Essener ist allgemein jeder Bundesliga-Spieltag etwas Außergewöhnliches. Erst recht sind es die Duelle gegen die mit Weltklasse-Leuten besetzten Top-Teams der Klasse. Und Kiel war besonders für zwei Essener etwas sehr Spezielles. Einer, der diesen späten April-Nachmittag intensiv zu genießen schien: Lucas Firnhaber. Der lange Linkshänder, im Sommer 2018 aus Kiel ins Ruhrgebiet gekommen, erzielte sieben Tore – exakt so viele wie THW-Superstar Sander Sagosen, der dazu allerdings auch zwei Siebenmeter benötigte. „Ich glaube, man hat gesehen, dass ich mich wohlgefühlt habe“, erzählte Firnhaber, der zunächst die Anfangsphase prägte – mit den Toren zum 2:2 (5.), das zugleich sein 100. Saisontreffer war, 3:4 (6.) und 5:6 (9.). Nach der Pause hielt er die Gastgeber durch vier weitere Tore auf Kurs – 19:19 (36.), 20:21 (41.), 21:22 (44.), 22:23 (47.). THW-Trainer Filip Jicha drohte draußen fast die Beherrschung zu verlieren, weil seine Abwehr den Essener Rückraumspieler einfach nicht in den Griff bekam – trotz einer intensiveren Beobachtung durch Domagoj Duvnjak seit der 40. Minute. Und ebenfalls wenig Spaß hatte bei Firnhabers letztem Tor der seit der 41. Minute für Dario Quenstedt gebrachte Niklas Landin. Lucas Firnhaber zeigte hier ziemlich eindrucksvoll, dass er nicht nur über einen harten Wurf verfügt, sondern auch über eine feine Technik: Seinem Dreher sah Landin einigermaßen ebenso erstaunt wie chancenlos hinterher.
Auf der Zielgeraden, als die Sache beim Stande von 26:30 inzwischen zugunsten der Kieler gelaufen war, schlug dann noch die „Stunde“ von Christopher Wolf – jenes 28 Jahre alten Kölners, den die Essener vor ein paar Wochen praktisch aus dem Lockdown und handballerischen Ruhestand heraus verpflichtet hatten. Als sich die personelle Lage aufgrund der einen oder anderen Verletzung zugespitzt hatte, wurde TuSEM auf der Suche nach einer Aushilfe im Kader des Drittligisten Longericher SC fündig: Dessen Abwehrchef Christopher Wolf wurde in einer Blitzaktion über zwei Etagen befördert. Nun kam Wolf für die letzten rund drei Minuten – wofür er sich natürlich nicht zu schade war. Es war im Übrigen kein Geschenk seines Trainers: „Unsere Mittelblocker waren platt und Chris hat sich das verdient. Er kennt seine Rolle und er hat gut trainiert.“ Zuletzt gegen Flensburg und Balingen war Wolf jeweils Zuschauer und Antreiber von der Bank gewesen. Nun standen ihm plötzlich die Herren Sagosen und Wiencek gegenüber. Weil das kein Handballer vermutlich so schnell vergessen wird, konnte sich auch Christopher Wolf für das Spiel gegen Kiel was kaufen. Die Erinnerung daran nimmt ihm keiner.