27. Mai 2021 | Zurück zur Artikelübersicht » |
Der Countdown läuft. Und vor Matthias Puhle steht der letzte Monat seiner mehr als sieben Jahre beim VfL Gummersbach. „Natürlich kommt ein bisschen Wehmut auf“, sagt der 35-Jährige, „weil es nur noch sechs Spiele sind.“ Nur ist gut. Genau diese sechs Spiele haben es in sich – weil sie den VfL zwei Jahre nach dem Abstieg zurück in die Bundesliga führen könnten. So ist das: Puhle hört auf – obwohl er sich in dieser Saison wieder auf dem Höhepunkt seines Schaffens befindet, obwohl er seit Monaten toll hält, obwohl er mit einer Quote von 36,48 Prozent gehaltener Bälle in der offiziellen HBL-Statistik die Nummer eins aller Zweitliga-Torhüter ist. Und Puhle hört auf, obwohl die Gummersbacher eine sehr realistische Chance auf die Rückkehr in die oberste Etage des deutschen Handballs haben. Würde er nicht neu überlegen, falls es der VfL schafft? Würde er nicht noch mal gern gegen die Landins, Gottfridssons oder Sagosens antreten? Die Antwort überrascht kaum, weil Puhle eben Puhle ist – und sich die Dinge reiflich überlegt hat: „Ich genieße es, wie es ist. Ich freue mich auf ein gelungenes Karriereende.“ Kleine Ergänzung: Ein echtes Karriereende ist es gar nicht, sondern ein Umschalten aus dem reinen Profi-Dasein zu seinem früheren Verein OSC Rheinhausen in die Regionalliga.
Die erste Aufgabe im beginnenden Endspurt 2020/2021 ist direkt ein Schlüsselspiel – für beide Seiten, denn die Gummersbacher treten am Freitagabend (19.30 Uhr) zum Duell der aktuellen Verfolger des Spitzenreiters Handball Sport Verein Hamburg beim TuS N-Lübbecke an. Hinter Hamburg (48:12 Punkte), N-Lübbecke (48:14) und Gummersbach (47:13) kommt lange nichts (Vierter HC Elbflorenz Dresden/34:24), sodass diese drei Top-Teams die beiden Fahrkarten in die Bundesliga unter sich aufteilen werden. Richtig ist, dass der Sieger seine Position im Kampf um den Aufstieg deutlich verbessert, doch ein klassisches Finale sieht anders aus. VfL-Coach Gudjon Valur Sigurdsson hat es kürzlich so ausgedrückt: „Das ist kein entscheidendes, aber ein sehr wichtiges Spiel.“ Das kann der beim TuS N-Lübbecke verantwortliche Emir Kurtagic unterschreiben: „Du bekommst für einen Sieg doch auch nur zwei Punkte. Und wenn du nur noch diese zwei Punkte holst, wird es nicht reichen.“ Zu den Gesetzen der Zweitliga-Mathematik gehört, dass die Gummersbacher das 27:24 aus der Hinrunde im Rücken haben und zurzeit im direkten Vergleich vorne liegen – der bei Punktgleichheit zwischen zwei Teams den Ausschlag gibt. Gummersbach könnte deshalb mit einem Unentschieden leben, das sich im Handball allerdings kaum planen lässt. Gewinnt Nettelstedt, müsste Gummersbach erneut mindestens einen Zähler oder vielleicht sogar zwei aufholen (abhängig davon, wie deutlich der TuS-Sieg ausfällt). Gewinnt Gummersbach, müsste Nettelstedt (hat eine Partie mehr ausgetragen) irgendwie drei Minuspunkte aufholen.
Bei aller sportlichen Konkurrenz ist bei den Hauptdarstellern viel gegenseitiger Respekt vorhanden. „Ich freue mich echt darauf, alte Bekannte zu treffen und mit Leuten zu reden“, versichert Matthias „Matze“ Puhle. Und damit meint er definitiv nicht zuletzt TuS-Coach Kurtagic, der ja von Dezember 2011 bis März 2017 als Trainer im Oberbergischen unter Vertrag stand – und zu Gummersbach eine ganz besondere Verbindung hat. Puhle schätzt seinen ehemaligen Trainer Kurtagic aus der einstigen Zusammenarbeit in der Schwalbe-Arena sehr: „Ein ganz feiner Kerl.“ Fast logisch: Der Keeper und der Trainer waren auch schon beim gemeinsamen Golfen zu sehen, das Puhle längst als perfekten Ausgleich für sich entdeckt hat: „Nach dem ersten Schlag schaltest du ab. Du kriegst den Kopf frei.“ Sehr frei war der Kopf etwa, als der 35-Jährige vor ein paar Monaten für sich festlegte, etwas weniger in den Handball zu investieren und die so gewonnene Zeit verstärkt seiner Familie zu widmen. Diese Perspektive tut ihm in Verbindung mit der beruflichen Neu-Orientierung (Ausbildung beim Stadtsportbund Duisburg) gut und sie scheint sogar leistungsfördernd zu sein. Fast selbstverständlich: Matthias Puhle hat vor, am Samstag ab 19.30 Uhr für die nächsten anderthalb Stunden (Unterbrechungen, Halbzeitpause eingerechnet) eine Art Spielverderber für den TuS zu sein. Und einigermaßen sicher werden die Gummersbacher für einen Erfolg auch eine überdurchschnittliche Torhüterleistung brauchen.
Emir Kurtagic findet das, was Puhle in dieser Serie abliefert, überragend: „Er spielt eine sensationelle Saison. Ich halte unheimlich viel von ihm und freue mich sehr darauf, ihn zu treffen. Wir alle hier freuen uns auf dieses Spiel.“ Wie es mit dem Druck aussieht vor einer Partie, in der es um einiges geht? Kurtagic versichert, keinen zu spüren: „Ich bin sehr entspannt. Wir haben nach 31 Spielen alles selbst in der Hand. Vor sechs Monaten lagen wir doch viele Punkte hinter Gummersbach.“ Die Aufstiegs-Konkurrenten stehen seiner Ansicht nach völlig zu Recht dort oben – weil sie, jeder auf seine Art – ziemlich viel richtig gemacht haben: „Das bestätigt die Arbeit von uns allen.“
Und damit ist im selben Atemzug der VfL gemeint, dem Kurtagic im Übrigen unverändert die Daumen dafür drückt, dass es mit dem Sprung nach oben klappen möge – weil der Traditionsklub aus dem Oberbergischen seiner Meinung nach in die Erstklassigkeit gehört. Gleichzeitig ist Emir Kurtagic als Chefcoach des TuS selbstredend noch stärker am Wohlergehen der Nettelstedter interessiert. Also wäre ihm am meisten geholfen, dass sowohl der TuS als auch der VfL demnächst wieder in der Bundesliga spielen. Fürs bevorstehende Spitzenspiel denkt er jetzt vor allem daran, wie den Gummersbachern am besten beizukommen ist. Anders ausgedrückt: Für jenen Zeitraum ab 19.30 Uhr am Freitagabend ruhen sämtliche Freundschaften. Dann verfolgt jeder die eigenen Ziele. Und Kurtagic wird es seinem Ex-Spieler Puhle nicht verübeln, dass der den Kasten am liebsten wieder vernageln würde.
Wie das am am Samstag ausgeht? Natürlich legt sich keiner fest – weil ein Resultat tatsächlich kaum vorherzusagen ist. Die Gummersbacher schätzen bei den Nettelstedtern etwa deren stabiles Niveau, die gefährlichen Aktionen über die Außen und aus dem Rückraum. Demgegenüber weiß Nettelstedt, dass die Gummersbacher vor Puhle ebenfalls über eine personelle Besetzung verfügen, die gehobenen Ansprüchen genügt. Gemeinsame Hoffnung eins: Es möge ein toller Handball-Abend werden. Gemeinsame Hoffnung zwei: Es wäre toll, wenn am Ende in dieser Saison vielleicht doch Fans in die Halle zurückkehren dürften. Da wäre wohl nicht zuletzt mit Blick auf die letzten drei Auftritte der Gummersbacher interessant: Am 16. und am 19. Juni trifft der VfL zu Hause auf den HC Elbflorenz Dresden und die HSG Konstanz. Vielleicht ergibt sich der passende Rahmen, um Matthias Puhle nicht unter Ausschluss, sondern unter Einschluss der Öffentlichkeit zu verabschieden. Das würden ihm ganz viele gönnen und ganz bestimmt auch Emir Kurtagic.
Deutlich im Schatten der Top-Paarung steht am 34. Spieltag das Heimspiel des Fünften TSV Bayer Dormagen (34:26 Punkte) gegen den auf Rang 16 tief im Keller der Tabelle steckenden Wilhelmshavener HV (21:35), der am Ende noch vier Zähler verliert (Wechsel des wirtschaftlichen Trägers im Laufe der Saison). Die Partie am Freitagabend (ebenfalls 19.30 Uhr) ist allerdings nicht nur für die Gäste vom Jadebusen wichtig, sondern genauso für die Dormagener. Das Team von Trainer Dusko Bilanovic hatte vor Kurzem mit dem 32:27 beim VfL Lübeck-Schwartau sehr nachhaltig Ansprüche auf Rang vier hinter den drei Top-Teams angemeldet – und bot vier Tage später mit dem 27:35 beim TV Großwallstadt besonders in der ersten Hälfte eine rätselhaft schwache Vorstellung. Nun geht es zum Abschluss einer kraftraubenden Woche mit drei Spielen innerhalb von sieben Tagen um eine Wiedergutmachung. Der TSV kann zeigen, dass die jüngste Niederlage in dieser Form ein seltener Ausrutscher war – und er will sich auf keinen Fall dem Vorwurf aussetzen, er habe den Kampf um den Klassenerhalt durch einen Mangel an Einsatz oder Leidenschaft beeinflusst. Allein das ist ein hoher Anspruch, der eine deutliche Steigerung verlangt – unabhängig davon, welches Personal zur Verfügung steht und welche Probleme auf der einen oder anderen Position sich daraus ergeben.