2. Bundesliga
Ultra-Marathon: Essen und Dormagen vor hohen Hürden
Bundesliga-Absteiger TuSEM beginnt in Aue, der TSV Bayer in Hamm-Westfalen. VfL Gummersbach ist noch Zuschauer.

So machen wir das: Trainer Jamal Naji (links) dürfte Eloy Morante Maldonado und der gesamten Mannschaft noch intensiv erläutern, wie er sich die Essener Auftritte vorstellt. (Foto: Thomas Schmidt)

Irgendwann spielen sie vielleicht einfach durch. Schon die vergangene Saison war ja für die Zweitligisten mit 36 Spielen besonders lang und herausfordernd. Nach dem Finale am 26. Juni kam dann nur eingeschränkt alles Gute von oben – eine Menge an sportlicher Qualität auf der einen Seite. Auf der anderen Seite wuchs die ohnehin umfangreich besetzte Klasse durch vier Absteiger sogar von 19 auf 20 Klubs an. Folge: Der Wettbewerb wird noch härter, die Saison dauert noch länger, die Belastung wird noch höher. Es ist tatsächlich ein Ultra-Marathon, an dem bis zum 11. Juni 2022 auch TuSEM Essen, der VfL Gummersbach und der TSV Bayer Dormagen teilnehmen. Keiner wagt eine Prognose, wer am Ende die Nase vorne haben wird. Eins steht immerhin fest: Diese 2. Bundesliga dürfte die stärkste aller Zeiten sein. Mannschaften, die fest unten einzusortieren sind, lassen sich nicht ausmachen. Dafür ist die Zahl der Teams, die sich nach oben orientieren wollen, umso größer. Absteiger wie Eulen Ludwigshafen oder HSG Nordhorn-Lingen zählen ebenso dazu wie die SG BBM Bietigheim mit der spanischen Handball-Legende Iker Romero auf dem Trainerstuhl oder die Gummersbacher. Im Oberbergischen sind sie nach der zuletzt missglückten „Mission Aufstieg“ zwar etwas vorsichtiger, doch Mittelmaß kommt für den Kader von Trainer Gudjon Valur Sigurdsson überhaupt nicht in Frage. „Wir werden uns nicht verstecken und wir wollen oben mitspielen“, sagt Geschäftsführer Christoph Schindler. Kleiner Vorteil für den Traditions-Verein: Die Gummersbacher starten erst am kommenden Dienstag mit der Partie gegen den VfL Lübeck-Schwartau. Damit können sie ausführlich und in Ruhe beobachten, was die Konkurrenz zum Auftakt anstellt.

Der Bundesliga-Absteiger TuSEM Essen weiß, dass er sich für das reichlich eingesammelte Lob aus dem vergangenen Jahr nichts mehr kaufen kann. Deshalb lag ein Hauptpunkt der Arbeit von Trainer Jamal Naji, der nach dieser Saison zum Bundesligisten Bergischer HC wechseln wird, auf der inneren Einstellung: „Unser Mindset muss sich ändern. Wir brauchen im Kopf eine andere Herangehensweise.“ Allein mit spielerischen Mitteln werden die bevorstehenden Aufgaben kaum zu lösen sein und die Konkurrenten werden nicht in Ehrfurcht erstarren, weil sie auf eine Mannschaft mit einem Jahr Erfahrung in der höchsten deutschen Klasse treffen. Naji erwartet zudem körperlich den maximal möglichen Widerstand, sodass die Essener in jedem Spiel an ihre Grenze gehen müssen. Ob TuSEM an die Rückkehr in die Bundesliga denken darf? Naji bleibt angesichts der erkennbaren Qualität bei den anderen vorsichtig: „Kann sein, dass wir eine gute Saison gespielt haben, wenn wir Sechster werden. Wir dürfen aufsteigen, müssen es aber nicht.“

Schon der Auftakt am Samstag beim EHV Aue hat es in sich. Als sich der TuSEM-Coach vor ein paar Monaten noch aus der Ferne mit Aue beschäftigte, konnte er nicht zu hundert Prozent nachvollziehen, warum der EHV in der Abschluss-Tabelle den fünften Platz belegte. Intensivere Recherchen und Beschäftigung mit dem ersten Gegner in der Serie 2021/2022 ergaben diese einfache Antwort: „Weil das eine richtig gute Mannschaft ist.“ Als herausragenden Dreh- und Angelpunkt im Team seines Kollegen Stephan Swat (seit 2008 im Erzgebirge tätig) sieht Naji den 25 Jahre alten Adrian Kammlodt,  Der Rückraumspieler erzielte in der vergangenen Saison als siebtbester Werfer der 2. Bundesliga genau 186 Treffer – was in einer bereinigten Liste (ohne Siebenmeter) sogar Rang eins gewesen wäre. „Das ist ein sehr variabler Spieler“, findet Essens Coach. Seiner eigenen Mannschaft traut er trotzdem zu, sich auf die allgemeinen Qualitäten der Gastgeber einzustellen. Weil die Essener aber nicht von jetzt auf gleich den zum HC Erlangen gewechselten und für die Abwehr ebenfalls zentral wichtigen Kreisläufer Tim Zechel voll ersetzen können, muss TuSEM erst recht über eine geschlossene Teamleistung dagegenhalten. Dass der eine oder andere Spieler angeschlagen ist, macht die Aufgabe nicht einfacher – ohne dass Naji sich damit lange aufhalten mag: „Wir wollen das tun, was wir beeinflussen können.“

Volle Kraft voraus: Neuzugang Patryk Biernacki wird für Dormagen wegen des langfristigen Ausfalls von Alexander Senden noch wichtiger. (Foto: Thomas Schmidt)

Ein paar Baustellen gibt es vor dem Start am Samstag beim ASV Hamm-Westfalen auch beim TSV Bayer Dormagen, denn Joshua Reuland (nach Kreuzbandriss noch im Reha-Training) und Alexander Senden (Schulter-Operation) stehen bis auf Weiteres nicht zur Verfügung. Auf den aus der eigenen A-Jugend hochgezogenen Lucas Rehfus (Schulter) muss Trainer Dusko Bilanovic zurzeit ebenfalls verzichten, sodass sich die Dormagener sogar nach einem Neuzugang für den Rückraum umsehen. „Wir sind auf der Suche“, erklärt Bilanovic, der sich trotz zum Teil überzeugender Test-Resultate eine längere Zeit zur Vorereitung gewünscht hätte: „Die Pause war nicht lang genug.“ Weil langes Lamentieren seine Sache trotzdem nicht ist, will er mit der Mannschaft von Anfang an die aus der vergangenen Serie bekannte Leidenschaft zeigen – die dem TSV Bayer in der Tabelle immerhin den starken siebten Platz brachte, der nach den Rängen 13 und 10 in den beiden ersten Jahren nach der Rückkehr in die 2. Bundesliga das beste Resultat war. An eine Position ähnlich weit oben wagen die Dormagener unter anderem angesichts der noch härter gewordenen Konkurrenz gerade nicht zu denken: „Wir wollen so schnell wie möglich nichts mit dem Abstieg zu tun haben. Alles ab Platz zwölf nach oben wäre super.“ Rang zwölf ist für Bilanovic deshalb wichtig, weil er die Qualifikation für den DHB-Pokal 2022/2023 bedeutet.

Eine erste Standort-Bestimmung werden die Dormagener direkt beim ASV Hamm-Westfalen bekommen, der sich nach dem enttäuschenden neunten Platz aus 2021/2022 erheblich verstärkt hat. Neu in der Mannschaft von Trainer Michael Lerscht sind etwa der Niederländer Dani Baijens, der vom Pokalsieger TBV Lemgo kam und als Spielmacher die Fäden ziehen soll, oder Tim Roman Wieling, der zuletzt für den TBV Stuttgart in der Bundesliga unterwegs war. Auch Torhüter Vladimir Bozic (HBW Balingen-Weilstetten) oder Rückraumspieler Matej Mikita (aus Frankreich) sorgen dafür, dass der ASV jetzt über eine breitere personelle Basis auf hohem Niveau bauen kann. Außerdem steht ASV-Spielmacher Sören Südmeier nach monatelanger Verletzungspause wieder zur Verfügung, sodass TSV-Coach Bilanovic die Gastgeber für einen ganz weit oben einzusortierenden Gegner hält. Der TSV Bayer hat, anders als der Auftakt-Widersacher, sein Personal nur sehr moderat ergänzt: Der Pole Patryk Biernacki (25/Rückraum) und der fast auf den letzten Drücker verpflichtete Slowene Jaka Zurga (23/Linksaußen) sind die einzigen Zugänge von außerhalb. Wer mit welchem Konzept besser fährt, wird sich am Samstagabend vielleicht ein bisschen besser erkennen lassen. Heiß sind allerdings alle. Der längste Marathon aller Zeiten kann beginnen.