29. Oktober 2021 | Zurück zur Artikelübersicht » |
Das ist typisch für Jamal Naji. Handball kommt für ihn nie als berufliche Belastung daher, sondern eher als Privileg, auf diesem Gebiet und diesem Niveau arbeiten zu dürfen. Natürlich hätte er bei seiner ersten Trainerstation im Profibereich lieber die Bundesliga gehalten mit TuSEM Essen, doch den direkten Wieder-Abstieg sah der 35-Jährige nicht als Scheitern – weder für seine Mannschaft noch für sich selbst. Dass sich die ganz oben gewonnenen Erfahrungen in der 2. Bundesliga durchaus bezahlt machen, hat sich in den ersten sieben Spielen gezeigt. Und die Terminplaner hatten dann wohl das, was sich ein glückliches Händchen nennt: Sie setzten auf den kommenden Samstag das Duell zwischen dem großen VfL Gummersbach und den ganz sicher nicht viel kleineren Essenern an. Der Erste Gummersbach, mit 14:2 Punkten ausgestattet, trifft auf den Zweiten TuSEM, der bei 13:3 Zählern steht. Die Schwalbe-Arena, die nach offiziellen HBL-Angaben Platz für genau 4132 Zuschauer bietet, dürfte zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit ziemlich voll besetzt sein. Und mehrheitlich dürften die anwesenden Fans wohl auf der Seite der Hausherren sein – was Naji wenig stört und schon gar keinen höheren Druck erzeugt. Was ihn an- und umtreibt, ist eine unabhängig vom Blick aufs Ergebnis tief aus dem Inneren kommende Begeisterung: „Wir spüren eine sehr große Freude, wir haben großen Bock auf dieses Spiel.“ Sollte sich das auf die Gummersbacher und alle in der Halle übertragen, muss es ab 18 Uhr beinahe automatisch einen großen Handball-Abend geben.
„Sicher spielt der Erste gegen den Zweiten“, erklärt Naji, „dieses Spiel ist natürlich ein Highlight-Spiel. Aber es wird nicht darüber entscheiden, wer am Ende oben steht.“ Das stimmt, weil anschließend auf jede der 20 Mannschaften in der 2. Bundesliga weitere 30 Meisterschafts-Aufgaben warten, in denen nicht nur viel passieren kann, sondern alles. Rein rechnerisch sieht die Lage vorne zurzeit so aus: Sollten die Essener in Gummersbach gewinnen, stünden sie plötzlich an der Tabellenspitze – was sie im Ruhrgebiet bestimmt nicht verkehrt fänden. Sollte der VfL die Oberhand behalten, hätte er vorerst einen der direkten Konkurrenten im Kampf um die Spitzenplätze auf drei Zähler distanziert. Für Gummersbach spricht das Heimrecht und die Mannschaft von Trainer Gudjon Valur Sigurdsson wird alles dafür tun, den schlechten Eindruck vom Mittwochabend mit der 33:34-Niederlage beim HC Empor Rostock direkt auszuradieren. Anders ausgedrückt: Der VfL spielt in der Schwalbe-Arena immer eine Klasse besser als auswärts. Unter anderem deshalb legt sich Jamal Naji fest: „Die Favoritenrolle liegt klar bei Gummersbach.“
Die Statistik der HBL gibt unter dem Strich nicht viele Unterschiede zwischen den Top-Teams her. Defensiv liegen beide fast gleichauf: 207 Gegentore hat Essen, 208 der VfL – der 68 davon alleine in seinen beiden vergangenen Spielen kassierte (40:34 gegen den TV Hüttenberg, 33:34 beim HC Empor Rostock). Bei den Torhütern liegt Gummersbachs Tibor Ivanisevic mit 79 gehaltenen Würfen (sechseinhalb Stunden Spielzeit) auf Rang vier aller Zweitligisten und Essens Sebastian Bliß (fünf Stunden) mit 65 Paraden „nur“ auf Rang elf. In der Quote abgewehrter Bälle steht Bliß allerdings inzwischen vor dem Kollegen – mit 33,33 Prozent gegenüber 31,23 Prozent. Dass die Gummersbacher den überragenden Angriff der Klasse stellen, liegt unter anderem am dritten Frühling von Janko Bozovic (35), auf dessen Konto mit 52 Toren ein Fünftel der 251 Tore geht. Linksaußen Hakon Styrmisson (44) und Rechtsaußen Lukas Blohme (39) halten sich ebenfalls noch vor den bisher erfolgreichsten Essenern Eloy Morante Maldonado (34), Noah Beyer (31) und Felix Klingler (22) auf. Alleine daraus ergibt sich der Unterschied: 135:86 Tore für Gummersbach, plus 49 (insgesamt 251:222/plus 29).
Für Torhüter Ivanisevic, der zuletzt nicht mehr an seine überragenden Leistungen aus den ersten Partien anknüpfen konnte, liegt das Rezept für einen Gummersbacher Erfolg auf der Hand: „Wir spielen zu Hause und da müssen wir unser Herz auf der Platte lassen, um wichtige Punkte zu gewinnen.“ Helfen soll dabei eine stimmungsvolle Halle, in der es vermutlich einen Rekordbesuch geben wird – mit den meisten Zuschauern seit einer gefühlten Ewigkeit. Bereits rund 60 Stunden vor dem Anwurf waren gut 3000 Karten abgesetzt. Hauptsponsor SABO hat zudem ein Paket von 500 Tickets erworben, sodass die Kapazitätsgrenze gar nicht mehr weit entfernt ist.
Meilenweit entfernt sind zurzeit sowohl eine halbwegs volle Halle als auch ein gut gefülltes Punktekonto für den TSV Bayer Dormagen, der nach der 23:27-Niederlage gegen den Dessau-Roßlauer HV bei jetzt 4:10 Punkten auf den ersten Abstiegsplatz gerutscht ist – und beim Zuschauer-Schnitt (deutlich unter 600) sogar Schlusslicht. Sportlich liegt die Talfahrt vor allem am Fehlen einiger Verletzter wie Joshua Reuland, Alexander Senden oder Ian Hüter, die der Kader trotz aller Hingabe über 60 Minuten auf einem vergleichbaren Niveau kaum ersetzen kann. Ohne die Qualitäten von Hüter, defensiv wie offensiv ein treibender Motor/Motivator, scheint Bayer fast eine andere Mannschaft zu sein. Der 24-Jährige fehlte wegen eines Muskelfaserrisses zum ersten Mal am 10. Oktober beim 18:28 in Gummersbach. Es folgten zwei schmerzhafte Heimniederlagen – 25:30 gegen den VfL Eintracht Hagen, 23:27 gegen Dessau. Nun wartet am Sonntag die ebenfalls nicht einfache Aufgabe beim Zwölften VfL Lübeck-Schwartau (6:8 Punkte), der zuletzt beim 28:22 über den TV Emsdetten im dritten Anlauf seinen ersten Heimsieg schaffte und selbstverständlich hofft, jetzt den zweiten folgen zu lassen. Dagegen hat der TSV wiederum eine Menge und Bilanovic plant mit dem Comeback seines Regisseurs: „Ich erwarte keine Wunder, aber Ian ist unsere Hoffnung.“ Hüter wird dann logischerweise zur ersten Sieben gehören.
Enttäuscht war Bilanovic zuletzt weniger von den jungen Leuten, die er in Ermangelung anderer Möglichkeiten einsetzen musste. Dormagens Coach verlangt zurzeit grundsätzlich mehr von Ante Grbavac (27), der mit sieben Toren (vier Siebenmeter) noch der erfolgreichste Werfer war, Patryk Biernacki (25) und André Meuser (24), der mit 33 Toren aus sieben Spielen auf Rang 30 der bisher beste Rückraumspieler des TSV Bayer ist. Unter dem Strich ist der Dormagener Angriff mit nur 163 Treffern und einem Durchschnitt von 23,28 pro Partie der eines Abstiegskandidaten. Ganz wichtig gerade in dieser angespannten Lage: Torhüter Martin Juzbasic und seine Abwehr mussten erst 181 Gegentore hinnehmen, was 25,85 pro Spiel entspricht. Folgende Hochrechnung, um auf dieselbe Anzahl an Spielen (acht) wie die anderen zu gelangen: 181 plus 26 = 207. Damit ist Dormagen hinten so stark wie der Zweite Essen und sogar ein Tröpfchen stärker als Spitzenreiter Gummersbach. Trotzdem brennt es gerade auch defensiv, weil es nach der Verletzung von Christian Ole Simonsen (Knochenabsplitterung) keine auf Dauer passende Backup-Lösung für Juzbasic gibt. Damit braucht der TSV Bayer Dormagen gerade richtig viel: Er braucht einen gesunden Ian Hüter, er braucht wohl eine externe personelle Ergänzung. Und vor allem braucht er so schnell wie möglich die nächsten Punkte.