Harz beiseite
Inklusion: Auch hier schlägt das Herz des Handballs
Drittliga-Spieler Markus Sonnenberg vom TuS 82 Opladen leitet als Sozialarbeiter das neue Projekt von "max-camp", dessen Erfinder der Ex-Profi Max Ramota ist. Der Auftakt war ein Erfolg - und bewegend.

Das war ein cooler Tag: Für zehn Teilnehmer, Trainer und Eltern war das erste Inklusions-Training eine tolle Sache. (Foto: Thomas Ellmann)

Es ist Samstag gegen halb zehn. Und die Zeit für den ganz großen Handball. Für das, was den Wert des Sports an und für sich ausmacht. Auf dem Weg zur Sporthalle an der Neuenhofer Straße in Solingen fällt unser Blick auf ein Haus, das uns bekannt vorkommt. Und richtig: Hier schlägt das organisatorische/finanzielle Herz des Bergischen HC, der in der Bundesliga spielt. Viel höher geht es ja nicht. Wirklich? Ein paar Hausnummern weiter steht ein draußen relativ schmucklos wirkender Kasten. Es ist die auch von der Grundschule Wiener Straße genutzte Sporthalle Neuenhofer Straße 43. Sie ist, was in Solingen keine Selbstverständlichkeit sein soll, aber frisch renoviert – was in diesem Augenblick passender kaum sein könnte. Drinnen gibt schließlich auch was Neues. Im Eingangs-Korridor der Halle laufen wir Max Ramota über den Weg, der wenig später drinnen klarmacht, dass er keinen Wert darauf legt, im Vordergrund oder im Mittelpunkt zu stehen. Das ist erst mal einfacher gesagt als getan, denn der 1,99-Meter-Mann, einst Bundesliga-Spieler und mit dem TBV Lemgo Deutscher Meister (2003) und EHF-Pokal-Sieger (2006), lässt sich kaum übersehen. Inzwischen ist Ramota 44 und unter anderem als Verantwortlicher für die Frauen-Abteilung des Bergischen HC und Erfinder von „max-camp“ nach wie vor dem Handball verbunden. Das gilt natürlich auch für Markus Sonnenberg, der seit Jahren eine wertvolle Stütze des Drittligisten TuS 82 Opladen ist und mit seiner Mannschaft erst vor Kurzem den Klassenerhalt geschafft hat. Ganz „nebenbei“ ist Markus studierter Sozialarbeiter mit einem stark ausgeprägten Drang, etwas von sich helfend an andere weiterzugeben. So kamen beide zusammen und so kam es, dass Sonnenberg seit einiger Zeit fest bei „max-camp“ angestellt ist. Als Inklusionsbeauftragter. Darum geht es an diesem Samstagmorgen: Die verbindende Kraft des Handballs. Deswegen heißt das Projekt „Handball inklusiv“. Um es vorwegzunehmen: Das erste Training mit Kindern und Jugendlichen wird allen, die es erleben (dürfen), unvergessliche 100 Minuten bringen.

Ein letztes Mal tritt Max Ramota in den Mittelpunkt, weil er als Vorstand von „max-camp“ die Anwesenden rund um den Mittelkreis zusammenruft – um ein paar Worte der Begrüßung loszuwerden. Dann übergibt er an Markus, der die Premiere zusammen mit Mara Berger und Jörn Walpurgis leiten und begleiten wird. Sie eint die Leidenschaft für den Handball sowieso. Mara bringt daneben aus ihrem Studium einen sonderpädagogischen Hintergrund mit, Jörn einen Berg an praktischer Erfahrung – denn er begleitet seinen gehörlosen Sohn Vincent, den alle eher „Vinnie“ nennen. Jörn „übersetzt“ durch Gebärdensprache, wann immer es nötig ist. Dass die in der Mitte aufgebaute Kiste dazu da ist, um bunte Luftballons in der Halle zu verteilen, braucht er aber nicht zu dolmetschen. Markus erreicht sein Ziel mühelos: „Die Halle ist schon unordentlich. Jetzt könnt ihr sie noch unordentlicher machen.“ Weil der Plan aufgeht, steht da tatsächlich schon so etwas wie eine Mannschaft auf der Platte – ein paar Minuten nach dem Start. Und das zieht sich später wie ein roter Faden durch alle Spielformen und Übungen: Immer wieder kommt herrlicher Blödsinn vor, niemand ist überfordert, niemand steht am Rand, niemand muss die Angst haben, etwas falsch zu machen. Wer mitmacht, darf einfach Mensch sein – jünger (ab acht), jugendlich oder erwachsen, mit Beeinträchtigung (körperlich und/oder geistig) oder ohne Beeinträchtigung. Teilnahme-Voraussetzungen sind nur Freude am Mannschaftssport, Freude am Handball und Freude an der Bewegung.

Mein Freund, der Ball: Lilly, Simon und David (von links) sind gespannt, ob aus dem Wurf wohl ein Tor wird. (Foto: Thomas Ellmann)

Einer, der (noch) am Rand steht und alles beobachtet, ist David Behre – der vom Projekt gehört hat und beschlossen hat: „Das musst du dir ansehen.“ Dem einstigen Profi, der im Jahr 2016 Deutschlands schnellster Läufer über die 400 Meter war und bei den Paralympics in Rio einen kompletten Medaillensatz mitnahm, kribbelt es irgendwie in den Beinen – ein Vergleich, der ein bisschen seltsam klingen mag und den er doch so unterschreibt. Bei einem Unfall im Jahr 2007 wird David Behre von einem Zug erfasst und beide Beine werden abgetrennt. Ein Fernsehbericht über den als „Blade Runner“ bekannten Sprinter Oscar Pistorius zieht ihn derart in seinen Bann, dass er den Entschluss fasst, es genauso zu machen. Er kämpft und kämpft – und wird einer der erfolgreichsten Para-Sportler nicht nur in Deutschland. Was er sich für die Zeit nach der Karriere als Ziel gesetzt hat? Er will Menschen Mut machen. Und er will sich für die Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigungen einsetzen. Dass gerade Kinder vielleicht vom Sport ausgeschlossen sind, weil es für sie kein Angebot gibt, kann und will er so nicht auf sich beruhen lassen.

Plötzlich steht David Behre, der auf seinen für den Alltag hergestellten Prothesen da ist, auf: „Ich muss mal eben ans Auto.“ Ein paar Minuten darauf ist er wieder da – und beginnt, sich umzuziehen. Sportklamotten gegen Jeans und T-Shirt, normale Prothesen gegen allgemein für den Sport geeignete. Dann rennt er einmal quer durch die Halle auf die anderen Seite, ist plötzlich mittendrin – und zeigt sogar erstaunliche Wurfqualitäten. Für Elias stellt er sich dann mal selbst zwischen die Pfosten und mit Simon, der als „Rolli“ mitmacht, freut er sich diebisch über jede gelungene Aktion. Zusammen scheinen alle Beteiligten fast auf dem besten Weg zu sein, Raum und Zeit zu vergessen. Was drumherum ist, scheint gerade gar keine Rolle zu spielen. Das neue Projekt hat seine Ziele erreicht und die 110 Minuten sind wie im Flug vergangen. Kurz vor Mittag verabschieden sich alle mit bewegendem Applaus voneinander. Und es soll ja erst der Anfang gewesen sein, denn die Stunden wird es regelmäßig jeden ersten und dritten Samstag im Monat geben. Das Angebot ist zunächst kostenfrei – und ein Schnuppertermin jederzeit möglich. Wer mitmachen will, sollte vorbeikommen und wer Fragen hat, sollte sie stellen. Für alle Infos rund um den inklusiven Handball steht Markus Sonnenberg zur Verfügung (Mobilnummer 0178 / 2146832, Mail: m.sonnenberg@max-camp.com).

Die Quatschmacher: Markus, Mara, Elias und Vincent (von links) nahmen nicht immer alles richtig ernst. (Foto: Thomas Ellmann)

Sein erstes Fazit sagt alles: „Ich war noch am Tag danach total geflasht.“ Die Erfinder bei max-camp, die eine Menge Energie in die Vorbereitung gesteckt haben, sahen sich darin bestätigt, jetzt loszulegen – und nicht etwa noch länger zu warten, um bis in jeden Winkel alle Details bereits festgelegt zu haben oder sich immer wieder diese Fragen zu stellen: „Wie wird das? Was kommt auf uns zu?“ Eine Antwort darauf liefert diese Feststellung: „Du siehst hinterher in leuchtende Kinderaugen.“ Natürlich ist der Ideenkasten bei max-camp nach wie vor voller weiterer Träume. Zu einem davon gehört, dass sich Eltern stark miteinander vernetzen – am besten so gut, dass sie ihre Kinder für eine oder anderthalb Stunden alleine (also in der Obhut der Trainer) lassen könnten und in dieser Zeit vielleicht im direkt neben der Halle liegenden Café miteinander ins Gespräch kommen. Ein anderer Traum: Eine Handball-Mannschaft von max-camp nimmt im September in Bonn an den Special Olympics Landesspielen NRW teil. 

Den halte ich: Caro scheint davon überzeugt zu sein, dass sie hier ihren „Arbeitsplatz“ vor einem Gegentor bewahren kann. (Foto: Thomas Ellmann)

Der Inklusionshandball hat am Ende trotz der bereits vorhandenen Unterstützung durch die „Aktion Mensch“ natürlich auch eine eher unromantische Seite: Er kostet Geld und ohne einen weiteren Zufluss an Mitteln lässt er sich nicht in der notwendigen/erwünschten Qualität durchführen. Der Sport braucht nicht zuletzt Sponsoren und Spender, die für finanzielle Unterstützung sorgen – damit geeignete Trainer bezahlt und Materialien (nicht nur Bälle) angeschafft werden können. Und es wird letztlich auf Dauer so sein, dass die zunächst kostenfreie Teilnahme am Training in der Halle Neuenhofer Straße einen Beitrag verlangen wird (Mitgliedschaft). Um den Start bei den Landesspielen in Bonn zu ermöglichen, hat max-camp im Übrigen eine Crowdfunding-Aktion gestartet – mit dem Ziel, bis zum 31. März mindestens 5000 Euro zu erreichen. Das Geld wird überhaupt nur dann ausgezahlt, wenn diese Summe erreicht oder übertroffen wird. Ansonsten soll das Geld an die Unterstützer/Unterstützerinnen zurückgezahlt werden. Hier sind die Einzelheiten zu finden: www.max-camp.com und www.fairplaid.org/handballfueralle. Was sich die Macher/Erfinder wünschen: Es bricht tatsächlich die Zeit für den ganz großen Handball der etwas anderen Art an. Für das, was den Wert des Sports an und für sich ausmacht. Der gilt im Übrigen natürlich ebenso in der 2. Bundesliga oder in der 3. Liga oder in der Regionalliga und den Oberligen. In diesem Sinne kennt der Handball keine Grenzen.