Regionalliga Nordrhein
Ein Dorf rastet aus: Aldekerk steigt in die 3. Liga auf!
TVA bezwingt den Titelfavoriten Interaktiv vor 700 begeisterten Zuschauern in einem packenden Gipfeltreffen mit 36:34 und wird Meister.

Aldekerk, wie es singt und lacht: Roman Grützner (vorne) und Julian Mumme (rechts) führten die Spaßgesellschaft nach der Schluss-Sirene und dem Sieg gegen Ratingen zu weiteren Höchstleistungen. (Foto. Herbert Mölleken)

TV Aldekerk – Interaktiv.Handball 36:34 (17:20). Es sind genau diese Spiele, die der  Handball braucht, weil alles drin ist: Emotion, Leidenschaft, Spannung. Und es sind diese Spiele, nach denen erst mal niemand fragt, ob das Ergebnis gerecht ist oder vielleicht ein bisschen glücklich. Auf jeden Fall war der Donnerstagabend vor rund 700 Zuschauern in der proppenvollen Vogteihalle das würdige Finale im Kampf um die Meisterschaft – in der die Gastgeber ganz Aldekerk in einen Ausnahmezustand versetzten. Nach dem Krimi hat der TVA mit jetzt 43:9 Punkten den ersten Platz in der Abschluss-Tabelle sicher und er spielt in der kommenden Saison in der 3. Liga. Also wieder nicht die Ratinger (39:11), die seit Jahren trotz beträchtlicher Investitionen ins spielende Personal vergeblich versuchen, den Sprung nach oben zu schaffen. Den Titel schnappten ihnen diesmal eben die Aldekerker vor der Nase weg, die so ein Mammutprogramm mit zehn Spielen seit Anfang April mit dem zehnten Sieg hintereinander krönten – und deshalb unter dem Strich doch verdient den ersten Platz holten. „Das ist das Geilste, was passieren konnte“, fand nicht nur der gegen Ratingen noch intensiv mitwirbelnde künftige Aldekerker Trainer Tim Gentges, der sich keine weiteren Kommentare entlocken ließ, sondern eher eine klare Geste absetzte. Das Signal: „Ich brauche ein Bier.“ Noch-Coach Nils Wallrath, der jetzt eine Handball-Pause einlegt, wollte ebenfalls mit seinen Spielern so schnell wie möglich in den Partymodus schalten: „Das Beste kommt zum Schluss. Das hat sich die Mannschaft echt verdient.“ Um so mehr aus seiner Sicht, weil sie besonders in der entscheidenden Phase zur Stelle war und als perfekt harmonierendes Kollektiv viele richtige Entscheidungen traf.

Möglicherweise werden sie in Aldekerk ohnehin erst in ein paar Tagen wirklich begreifen, was an diesem Donnerstagabend tatsächlich passiert ist. Auf dem Feld blieb bis zum 3:3 (8.) alles ausgeglichen – mit schon früh erkennbaren Tempovorteilen für die Gastgeber, die sich auf dem Weg zum 9:5 (13.) in einen Rausch zu spielen und sich phasenweise selbst zu überholen schienen. Das konnte fast nicht auf Dauer funktionieren und Interaktiv kam besonders über starke Einzelaktionen zurück – 9:9 (16.). Übers 11:11 (18.) zogen die Gäste, die aus der hörbaren und nicht immer sachgerechten Abneigung der TVA-Fans eher mehr Schwung zogen, mit dem 14:11 (20.) sogar auf drei Treffer weg und Aldekerk befand sich plötzlich mitten in der ersten Krise – die im Grunde bis zum 17:20 (30.) am Ende der ersten Halbzeit anhielt. Selbst das frenetische und bedingungslose Anfeuern durch die eigenen Fans drohte seine Wirkung zu verfehlen, weil Ratingen gerade einen unfassbar abgezockten Eindruck machte.

Applaus, Applaus: TVA-Trainer Nils Wallrath hätte sich keinen besseren Ausstand wünschen können. (Foto: Herbert Mölleken)

Die Hausherren rannten in der zweiten Halbzeit erst weiter hinterher – 20:23 (38.), 21:24 (38.). Ob Wallrath an dieser Stelle nicht doch ein bisschen die reine Wahrheit verließ? „Ich habe nie gezweifelt, dass wir es schaffen“, sagte der jetzt ehemalige TVW-Coach, „ich wusste, dass wir in der entscheidenden Phase Vorteile haben werden.“ Zumindest war kein Nachlassen bei den Aldekerkern zu sehen, die durch Kapitän Jonas Mumme beim 25:25 (43.) wieder ausgleichen konnten und spätestens ab diesem Zeitpunkt etwas Gefährliches höchstens durch die individuelle Klasse vor allem von Robert Markotic und Alexander Oelze zu befürchten hatten. Genau diesen beiden brachten Ratingen mit dem 29:28 (47.) und 30:28 (48.) erneut in Führung, doch der TVA-Express legte nun praktisch keinen Halt mehr ein. Thomas Plhak (49.) und Sjuul Rutten (50.) stellten auf 30:30, ehe erneut Markotic (51.) und Oelze (52.) fürs 32:30 Interaktiv sorgten. Was den Hausherren einfiel: Sie sammelten sich sofort zu einer Auszeit. Folge: Die letzten gut acht Minuten des Abends wurden zum triumphalen Schluss-Akkord, an dem viele beteiligt waren – unter anderem der jetzt für Stammkeeper Paul Keutmann eingewechselte Torhter Joscha Schoemackers.

Fünf Minuten später sah die Welt sowohl aus Aldekerker als auch aus Ratinger Sicht komplett anders aus und alles war wieder auf den Kopf gestellt: Vier Tore hintereinander brachten dem TVA die 34:32-Führung (57.), was nicht unwesentlich auf das Konto von Oelze ging – der beim Stande von 32:32 eine Zeitstrafe kassiert hatte (55.) und den Hausherren dadurch Freiräume verschaffte. Pech für den Interaktiv-Kapitän: Kurz darauf kreideten ihm die Unparteiischen in Überzahl (Zeitstrafe gegen Aldekerks nach der Pause überragenden Roman Grützner) ein Stürmerfoul an (58.), sodass die Gastgeber mit dem 35:32 (58.) von Gentges und dem 36:32 (59.) von Jonas Mumme auf einmal ein leuchtendes Schild vor Augen hatte: „Freie Fahrt in die 3. Liga.“ Mancher schlug dann bereits vor der Schluss-Sirene die Hände vor Gesicht, weil er es kaum glauben konnte. Mancher schrie seine Freude in die Welt heraus. Es stimmt aber: Aldekerk, ein Dorf mit rund 3000 Einwohnern und Teil der Stadt Kerken, spielt 2022/2023 in der 3. Liga.

Ace Jonovski war zwar die tiefe Enttäuschung anzumerken, doch der Interaktiv-Trainer erwies sich nach ein paar Minuten des Sammelns als fairer Verlierer: „Glückwunsch an Aldekerk. Sie haben eine sehr gute Serie gespielt mit drei Spielen in einer Woche.“ Seiner eigenen Mannschaft bescheinigte er zum Abschluss die „beste Saisonleistung“ und Jonovski trauerte am Ende der einen oder andere unerwarteten Niederlage hinterher – etwa dem 20:25 bei der SG Langenfeld oder das 27:27 kürzlich beim BTB Aachen, dass sich anfühlte wie eine Niederlage. Dass die Ratinger Idee vom Aufbau eines Teams, das in die 3. Liga aufsteigt, wieder nicht zündete, ist eine andere Frage. Darüber nachzudenken, könnte sich lohnen. Noch klarer: Darüber müssen sie nachdenken.

TV Aldekerk: Schoemackers, Keutmann – Jonas Mumme (8), Grützner (3), Greven, Plhak (5/2), Jentjens (8), Gentges (2), Küsters, Julian Mumme (4), Tebyl (2), Rutten (4/1), Herholz, Linden.

Interaktiv.Handball: Büttner, Schmitz – Hadzic, Schäfer, Markotic (9), Mentges, Claussen, Stock, Oelze (8/2), Mensger, Nuic (8), Ciupinski (2), Koenemann, Sabljic (7).