3. Liga
Aldekerk und der Zusammenhalt: Jeder hat Bock
Aufsteiger will in der höheren Klasse mit den bekannten Qualitäten bestehen. Auch Neu-Trainer Tim Gentges freut sich "wie Bolle" auf die nächste Saison.

Da fliegt er: Tim Gentges (mit Ball/hier im letzten Regionalliga-Spiel der vergangenen Saison gegen Interaktiv.Handball) fühlt sich auch auf dem Feld noch richtig wohl. (Foto: Herbert Mölleken)

Es ist auch zwei Monate danach immer noch eine wahnwitzige Geschichte – und eine mit höchstem Gänsehautfaktor. Und an den 19. Mai 2022 werden sie sich in der Nähe der Grenze zu den Niederlanden bestimmt eine ganze Weile erinnern, wenn nicht sogar der eine oder andere für immer. An jenem Donnerstag droht die Vogteihalle zu Kerken aus den Fugen zu geraten – weil 700 Zuschauer da sind, weil die Mannschaft des TV Aldekerk im letzten Saisonspiel der Regionalliga Nordrhein den Titelkontrahenten Interaktiv.Handball in einem packenden Endspurt mit 36:34 bezwingt. Und sich den Aufstieg in die 3. Liga sichert. Es ist der triumphale Schlusspunkt unter eine Aufholjagd, die sich gut zehn Wochen vorher in dieser Form keiner hatte vorstellen können. Am 6. März verliert das Team von Trainer Nils Wallrath mit 30:35 beim MTV Rheinwacht Dinslaken, am 22. März mit 29:30 bei der SG Langenfeld und am 2. April mit 23:30 beim HC Weiden – wie die vorherigen Kontrahenten ein Gegner aus der unteren Tabellenhälfte. Anders gerechnet: Sechs seiner insgesamt neun Minuspunkte auf dem Konto, das am Ende 43:9 Zähler aufweist, stammen aus diesen drei Spielen. Das also soll ein Kandidat für den Aufstieg sein? Wie soll das was werden im Mammutprogramm, in dem nach der Osterpause noch neun Aufgaben innerhalb von 26 Tagen warten? Die Antwort ist reine Mathematik: Man gewinne zehn Mal hintereinander.

Der Weg nach ganz oben beginnt am 5. April in Ratingen, als Aldekerk den Favoriten Interaktiv in dessen eigener Halle komplett mit 36:32 entzaubert. In der folgenden 18-Tage-Pause – ein fast unrealistisch anmutender Luxus in dieser Saison – reift in der Mannschaft und im Umfeld, dass Aufgeben überhaupt nicht in Frage kommt. Nach dem spektakulären 42:27 über den späteren Dritten TV Korschenbroich beginnen sich die Dinge allmählich zu verselbstständigen und Wallraths Team kann sich längst auch zu Erfolgen arbeiten – wie rund um die fünf Erfolge innerhalb von neun Tagen bei der TSV Bonn rrh. (34:32), gegen den OSC Rheinhausen (30:22), beim TV Rheinbach (27:22), beim BTB Aachen (28:19) und gegen den BTB Aachen (30:25). Aldekerk stolpert einfach nicht, selbst über die inzwischen müden eigenen Beine nicht. Die tolle Serie und der beständig steigende Adrenalinpegel treiben die Mannschaft an, die im Finale gegen Ratingen zum letzten Mal alle möglichen Akkus anzapft und so aus dem 30:32 (52.) beinahe wie auf Schienen die entscheidende 36:32-Führung (59.) macht. Wie das alles gelingen konnte? Tim Gentges, der mit dem Tor zum 35:32 (58.) einen wichtigen Beitrag leistet, liefert die simple Antwort: „Jeder hat Bock, sich für den anderen einzusetzen.“ Der 35-Jährige, der Nachfolger von Aufstiegstrainer Wallrath, sieht genau darin auch das Rezept für die 3. Liga, auf die sich die meisten in Aldekerk wie kleine Kinder freuen. Das Ziel in der für viele neuen Umgebung liegt auf der Hand: „Wir wollen dafür sorgen, dass wir über dem Strich stehen.“ Das wird natürlich eine echte Herausforderung.

Der Meister der Regionalliga baut auf einen zum größten Teil unveränderten Kader, der in der zurückliegenden Saison vor allen Dingen offensiv Maßstäbe setzte und als einziger Verein die Marke von 800 Treffern in 26 Meisterschaftsspielen durchbrechen konnte: 845 Treffer bedeuteten 32,5 Tore pro Partie. Illusionen macht sich in Aldekerk trotzdem keiner. „Wir werden lernen müssen, dass wir Spiele verlieren werden“, sagt Gentges, der aber auf die Lernfähigkeit seiner Mannschaft setzt – deren aktiver Teil er als Spielertrainer bleibt. Und weil das erst recht in der 3. Liga eine extrem anspruchsvolle Aufgabe ist, geht es natürlich nicht ohne die passende rechte Hand. „Ich bin sehr stolz und sehr froh, dass er das macht“, betont Gentges. Gemeint ist Frank Fünders – wie der Coach selbst ein Aldekerker Urgestein und ein ausgewiesener Handball-Fachmann. Außerdem könnte die Chemie zwischen beiden kaum besser sein: Sie vertrauen einander, sie denken den Handball in dieselbe Richtung. Das wiederum hat mit der Vergangenheit im Verein zu tun, an die sich Gentges immer gerne erinnert: „Er hat die ersten Herren trainiert, als ich ein Knirps war.“ Nun wollen die Herren gemeinsam mindestens die nähere Zukunft des Klubs gestalten, der tatsächlich in einem Dorf zu Hause ist – und vermutlich sind viele der rund 3000 Aldekerker als einer von vier Teilen der Stadt Kerken (etwa 13000 Einwohner) echte Handball-Fans. Dass es sogar noch kleiner geht, zeigen im Übrigen die Sportfreunde Söhre, die den Sprung in die 3. Liga als sportliches Herzstück der 1400-Einwohner-Gemeinde, die in der Nähe von Hildesheim zur Stadt Diekholzen liegt und sich den Titel in der Oberliga Niedersachsen sicherte. Zu einem direkten Duell der beiden gallischen Dörfer wird es allerdings nicht kommen, weil Aldekerk in die Gruppe West und Söhre in die Gruppe Ost eingeteilt wurde.

Da spricht er schon: Tim Gentges (rechts) war in der vergangenen Saison einer der wichtigsten Ansprechpartner des damaligen Trainers Nils Wallrath. (Foto: Thomas Schmidt)

Aldekerk verfügt über eine spannende Mischung im Kader – mit Spielern wie Roman Grützner oder Christopher Tebyl, die in der 3. Liga Neuland betreten, mit Spielern wie Sjuul Rutten, der als 20-Jähriger am Anfang seiner Handballer-Laufbahn steht, mit Spielern wie Torhüter Paul Keutmann (28), Kreisläufer Marcel Görden (33), Rechtsaußen Thomas Plhak (32) oder eben Gentges (35), die Erfahrung aus der 3. Liga und aus der 2. Bundesliga mitbringen. Dass alle Vier mal das Trikot der HSG Krefeld Niederrhein trugen, hat sich für die Aldekerker längst bezahlt gemacht. „Wir freuen uns wie Bolle, noch mal 3. Liga spielen zu dürfen“, betont Gentges. Aufgrund freundschaftlicher Verbindungen konnte der Aufsteiger vor einiger Zeit auch schon einen durchaus prominenten Zugang verpflichten: David Hansen, zuletzt beim Verbandsligisten HC RW Oberhausen unterwegs, verstärkt auf der linken Seite den Rückraum der Aldekerker, die dadurch weiter an Durchschlagskraft gewinnen. Der 33-Jährige, einst unter anderem für SC Magdeburg, EHV Aue, TuSEM Essen, Leichlinger TV und Krefeld aktiv (bis November 2019), passte nach Gentges‘ Ansicht perfekt nach Aldekerk: „Er hat noch einmal richtig Bock.“ Anders wäre das ohnehin kaum vorstellbar beim Aufsteiger, der als größtes Faustpfand für die kommenden Monate die innere Einstellung und Hingabe fürs gemeinsame Ganze sieht. „Uns zeichnet der Zusammenhalt aus“, meint Gentges, „das verbindet uns extrem – vor und nach den Spielen. Wir gehen alle in dieselbe Richtung.“ Sein fester Standpunkt: Das rein Sportliche mache nur 30 Prozent der Leistung aus – der Rest komme über viele Puzzleteile, die nicht selten sogar wenig ausschließlich mit dem Handball zu tun haben.

Die kommende Saison, die gegen LIT 1912 II (Spielgemeinschaft aus Ostwestfalen, zu der unter anderem der TuS Nettelstedt gehört) am 3. September mit einem Heimspiel beginnt, wird die Aldekerker von der ersten Sekunde an voll beanspruchen – physisch wie psychisch, weil die Anforderungen für jeden einzelnen Einsatz höher sind als bisher. Dabei sieht der TVA, der am Montag in die Vorbereitung startet, ganz oben in einer unerreichbaren Sphäre den Zweitliga-Absteiger TV Emsdetten, der unbedingt den direkten Weg zurück in die höhere Klasse finden will. „An ihnen führt gar kein Weg vorbei“, glaubt Tim Gentges, der weitere vier Konkurrenten oben einordnet: HSG Krefeld, Longericher SC, SG Schalksmühle-Halver Dragons und TuS Spenge. Dahinter folge ein extrem dichtes Mittelfeld – und praktisch niemand, der von vornherein abzuschreiben sei. In der Addition ergibt sich daraus dieses: Es wird Partien geben, die der TVA kaum gewinnen kann, und es wird solche geben, die er für den Klassenerhalt gewinnen muss. Rund um die Vogteihalle denken sie dennoch nicht daran, daraus so etwas wie Druck zu konstruieren: „Der Spaß wird überwiegen. Jedes Spiel ist ein Spiel, das du genießen sollst.“ Vermutlich wird die Vogteihalle hin und wieder sowieso aus den Fugen geraten. Wie an jenem 19. Mai.