2. Bundesliga
Dormagens neuer Trainer: „Handball ist eine Charakterfrage“
Für Matthias Flohr, der in seiner Spielerkarriere selbst alles erreicht hat, geht ohne Leidenschaft wenig.

Ich sag es euch! Matthias Flohr (Mitte) hat seiner neuen Mannschaft (links André Meuser, rechts Florian Träger) einiges mitzugeben. (Foto: Michael Jäger)

Matthias Flohr könnte vielleicht sogar noch ein paar Minuten mitmachen, wenn alle Stricke reißen. Und eigentlich muss die Ehe mit dem TSV Bayer Dormagen sowieso eine perfekte Verbindung werden – wenn es nach dem geht, was der 40-Jährige, den die allermeisten „Matti“ nennen, als Spieler erreicht hat. Die Kurzformel: Wo Flohr ist, ist der Erfolg. Er hat mit dem HSV Hamburg nahezu alles gewonnen, was sich ein Handballer erträumen kann: Deutscher Meister (2011), DHB-Pokal (2006, 2010), Supercup (2004, 2006, 2009, 2010), Champions League (2013), Europapokal der Pokalsieger (2007). Er war Junioren-Nationalspieler und Nationalspieler, er hat einen kurzen Ausflug ins Handball-Mekka Dänemark in seiner Bilanz stehen sowie von 2016 bis 2019 drei weitere Jahre beim Bundesligisten HBW Balingen-Weilstetten. Dort hat er nach dem Ende der aktiven Karriere als Spieler in drei Jahren als Co-Trainer von Chefcoach Jens Bürkle eine Menge gelernt – und sich mit seiner Familie immer sehr wohl gefühlt. „Ich bin jemand, der ordentlich abwägt“, sagt Flohr, der deshalb auch über das Angebot aus Dormagen  sorgfältig nachdachte – und letztlich zusagte. „Das ist eine sehr große Entscheidung“, erklärt der neue TSV-Coach, für den Familie (Frau, drei Kinder im Alter von vier bis neun Jahren) und Beruf unbedingt zueinander passen müssen, „dass wir uns trotzdem entschieden haben, diesen Schritt zu gehen, sagt alles.“ Wichtige Punkte: „Die Begeisterung ist groß und das ist stimmig hier. Dormagen macht eine Jugendarbeit, bei der sonst nur große Bundesligisten mithalten können.“

Dass Flohr ganz nebenbei wieder näher an seiner Heimatstadt Aachen zu Hause ist, passt sicher nicht schlecht ins gesamte Paket – und es könnte ihm zusätzlich den Rücken stärken. Im Testspiel gegen den Regionalligisten BTB Aachen hatte Matthias Flohr jetzt praktisch einen eigenen Fanblock auf der Tribüne – mit Eltern und Freunden. Unten gab es für Dormagens Coach ein ebenso freundschaftliches Wiedersehen mit BTB-Trainer Simon Breuer, den er aus seiner Aachener Zeit ebenfalls bestens kennt: „Ich habe mit Simon und dessen Bruder David bis zur A-Jugend zusammengespielt.“ Das hielt ihn allerdings keineswegs ab, auf der Platte konsequent die eigenen Ideen zu verfolgen und intensiv hinzuschauen, wie gut Theorie und Praxis bereits übereinstimmen. Der 48:26 (24:14)-Sieg war zwar im reinen Ergebnis eher nebensächlich, brachte aber unter anderem diese wichtige Erkenntnis: Rechtsaußen Joshua Reuland ist nach einem Kreuzbandriss aus dem April 2021 wieder fit – was er mit insgesamt elf Treffern vorwiegend nach Tempogegenstößen auch statistisch zu untermauern wusste.

Was Cheftrainer-Neuling Matthias Flohr auf allen Spieler-Stationen auszeichnete: Leidenschaft, Hingabe, die Bereitschaft, mit jeder Faser für eine Aufgabe zu arbeiten, Vielseitigkeit, Bodenständigkeit. Daraus ergibt sich fast logisch, auf was es für ihn besonders ankommt: „Das Wichtigste ist, dass wir Charakter zeigen und den Gegner respektieren, dass wir leidenschaftlich agieren und dass wir positiv sind.“ Jene Eigenschaften hat er schon als Jugendlicher und junger Mann bei der Aachener TG und anschließend beim BTB Aachen vorgelebt. Nach dem Wechsel zum damaligen Zweitligisten Ahlener SG folgte 2004 die Weiterreise nach Hamburg, die Flohr zwölf nahezu märchenhafte Jahre brachte. Zu denen trug er allerdings selbst eine Menge bei, weil er über starke defensive Qualitäten verfügt und sich darüber hinaus als Allrounder sowieso auf vielen Positionen zu Hause fühlte. „Ich habe mir immer meine Nische gesucht“, berichtet der damals nicht nur auf die Positionen Kreisläufer und Linksaußen festgelegte Ex-Profi: „Ich habe jede Aufgabe angenommen. Nur Torhüter war ich nicht.“ Mit viel Fleiß und viel Einsatz machte Flohr wett, was ihm manche Berufskollegen voraus hatten: „Mein Talent war nicht so wie bei anderen.“ So gilt der TSV-Coach als Musterbeispiel dafür, dass natürlich vorgegebene  Fähigkeiten alleine kaum ausreichen, um im Handball ganz oder zumindest ziemlich weit nach oben zu kommen. 

Auf ein konkretes Ziel mag sich Flohr, der sich selbst einen Familienmenschen nennt, für sein erstes Jahr in Dormagen und für seine erste Chef-Rolle im Bereich des professionellen Handballs im Grunde nicht festlegen lassen. Klar ist allerdings, dass es sehr gerne der Klassenerhalt sein darf – und am liebsten ohne eine derartige Zitterpartie wie in der vergangenen Serie, als sich der TSV Bayer aus einer sehr schwierigen Lage ganz unten in der Tabelle immerhin so weit befreien konnte, dass es am Ende zum Sprung ans rettende Ufer reichte. „Ich bin stolz darauf, wie die Jungs das gemacht haben“, betont der TSV-Trainer, der den Kampf der Dormagener aus der Entfernung verfolgte und selbst bei einem Bayer-Abstieg ins Rheinland gekommen wäre. Dass seine Balinger weniger Glück hatten und die Bundesliga kürzlich nach 1:15 Punkten aus den letzten acht Spielen verlassen mussten, beschert ihm im Übrigen ein relativ baldiges Wiedersehen mit vielen bisherigen Kollegen. Am 8. Oktober gehts nach Balingen-Weilstetten und vermutlich werden bis dahin beide Seiten einigermaßen wissen, wie ihre Chancen für die gesamte Saison 2022/2023 stehen. Der TSV Bayer startet am 31. August im Rahmen des Supercups in Düsseldorf mit der vorgezogenen Partie gegen HC Motor Zaporizhzhia (außer Wertung in die 2. Bundesliga aufgenommen), ehe die Heimspiele gegen den Dessau-Roßlauer HV (4. September) und gegen die HSG Konstanz (17. September) sowie die Aufgaben bei der DJK Rimpar Wölfe (23. September), gegen den VfL Potsdam (30. September) und gegen Balingen folgen. Sein erstes Pflichtspiel bestreitet der TSV Bayer am 28. August in der ersten Runde des DHB-Pokals beim Zweitligisten HC Elbflorenz Dresden.

Flohr ist der festen Überzeugung, dass er einen für die gemeinsamen Ziele passenden Kader beisammen hat – mit erfahreneren Kräften wie Torhüter Martin Juzbasic (34), der als „Team-Oldie“ als einziger älter als 30 ist, Reuland (28), Kapitän Patrick Hüter (27) oder Spielmacher Ian Hüter (24), der in der vergangenen Saison in der entscheidenden Phase wieder der Dreh- und Angelpunkt war. Die andere Seite der Medaille bilden aus dem eigenen Nachwuchs kommende Spieler wie Aron Seesing (19), bereits 2021/2022 zum Stamm zählend, Sören Steinhaus (18) und Florian Träger (19) oder Ole Klimpke (21), der den Dormagenern mit einem Zweitspielrecht vom Bundesligisten HSG Wetzlar zur Verfügung steht. Flohr stützt und fördert diese „Philosophie, die jungen Leute einzubinden“. Bekanntester Name, der im Sportcenter seine Wurzeln hat: Kentin Mahé (31), der in seiner Jugendzeit und am Anfang der Karriere im Männer-Handball in Dormagen aktiv war – und später mit Frankreich Weltmeister und Olympiasieger wurde. Andere wie Eloy Morante Maldonado (TuSEM Essen) oder Lukas Stutzke (Bergischer HC/2021 bei der EM und 2022 bei der WM jeweils für die Nationalmannschaft nachnominiert) schafften den Sprung in die Bundesliga.

Möglicherweise zieht da irgendwann einer aus dem aktuellen Kader nach – wofür eine starke kommende Saison keine verkehrte Empfehlung wäre. Matthias Flohr träumt ebenfalls von möglichst vielen überzeugenden Auftritten seines Teams, dem er einen ungewöhnlich intensiven Zusammenhalt bescheinigt: „Es wäre klasse, wenn wir am Ende sagen könnten, dass der TSV Bayer Dormagen eine begeisternde, tolle Runde gespielt hat.“ Dafür wird er an ein paar kleineren Stellschrauben drehen, ohne das komplette System neu zu erfinden: „Wir müssen uns natürlich weiterentwickeln. Aber ich habe die Weisheit nicht mit Schaumlöffeln gefressen.“ Zur Not könnte er ja, wenn alle Stricke reißen, sogar hin und wieder ein paar Minuten aushelfen. Vernünftig wäre das wohl nicht, weil ja der Körper vor ein paar Jahren deutliche Signale auszusenden begann: „Hör besser auf.“ Einem wie Matthias „Matti“ Flohr ist allerdings alles zuzutrauen.