17. August 2022 | Zurück zur Artikelübersicht » |
Die deutsche Grammatik muss hier einfache eine neue Steigerungsform erlauben. Sie lautet: Neu, neuer, TSV Kaldenkirchen. Der Verein, der direkt an der Grenze zu den Niederlanden zu Hause ist, gehört in der Saison 2022/2023 tatsächlich zur Oberliga Niederrhein – zum ersten Mal in seiner Geschichte. Erstens haben sie selbst nachgerechnet und es sich zweitens von den offiziellen Statistikern des Deutschen Handball-Bundes bestätigen lassen: 42 Jahre in der Verbandsliga sind deutscher Rekord – und vermutlich einer für die Ewigkeit, in der Kaldenkirchen als „Dino“ dieser Spielklasse vielen anderen etwas voraus hat. Entsprechend groß war auch der Jubel, als die Mannschaft von Trainer Volker Hesse den Sprung nach oben schon am viertletzten Spieltag in der Tasche hatte. Dass ihnen ausgerechnet die entscheidenden Punkte am 7. Mai kampflos zufielen, weil die DJK Adler Königshof II nicht antrat, galt lange als ein bisschen ärgerlich, ist jedoch inzwischen vergessen. Anschließend löste der Meister schließlich seine drei letzten Aufgaben und steigerte das Konto auf 46:6 Punkte – womit er unter dem Strich sogar deutlich vor dem TV Kapellen (38:14) über die Ziellinie kam. Alles zusammen wäre ein Grund gewesen, auf einer Welle der Euphorie durch die nächste Saison zu reiten. Was denn sonst? Aber es ist viel passiert seit dem 21. Mai, als sich der TSV mit einem 25:21 über den TV Aldekerk II in die verdiente Pause verabschiedete. Es ist eine Reihe an schweren Verletzungen, die viele Pläne von jetzt auf gleich über den Haufen geworfen hat und ein Umdenken erfordert. „Die Freude ist getrübt“, sagt Hesse, „dass es ein Rückschlag ist, trifft es nicht mal richtig.“ Gleichzeitig völlig klar: Natürlich hat er wieder/längst Ideen in der Tasche, wie sich die gravierenden Ausfälle wenigstens zum Teil wegstecken lassen.
Bereits in der Aufstiegs-Saison erwischte es Nils König mit einem Kreuzbandriss – ein Pech, das ebenfalls noch in der Hinrunde auch Guus Killars ereilte. Dass der TSV diese und weitere Ausfälle verarbeiten konnte und sich auf dem Weg zu seinem Ziel nicht aufhalten ließ, ist für Hesse ein beeindruckender Beleg für den enormen Zusammenhalt im Team – auf das jetzt direkt die nächste größere Bewährungsprobe wartet. Erster Tiefpunkt: Vor ein paar Wochen erlitten Nils König und Nils Coenen (beide zum zweiten Mal) einen Kreuzbandriss, der sie für viele Monate vom aktiven Handball fernhalten wird. Die Liste der Hiobsbotschaften wurde allerdings noch länger und das vergangene Wochenende würden die Kaldenkirchener am liebsten komplett streichen – weniger wegen der schwachen Leistung im Test beim Mittelrhein-Oberligisten HC Weiden II. Was Mannschaft und Trainer erneut bis ins Mark traf: In Maik Tötsches, der sich einen Riss der Achillessehne zuzog, wird eine weitere Schlüsselfigur als Torschütze und Deckungs-Organisator sehr lange nicht zur Verfügung stehen. „Uns fehlt ein kompletter Rückraum“, sagt Hesse, „der Halbrechte, der Halblinke und der Mittelmann.“ Nun ist guter Rat zwar relativ teuer, doch so etwas wie Resignation hat beim TSV offensichtlich keinen Platz. Der Coach muss umplanen und er wird es umfangreicher tun müssen, als ihm lieb sein kann. „Viele Jungs werden auf für sie neuen Positionen spielen müssen“, betont Hesse, der gleichzeitig auf der anderen Seite sehr zuversichtlich ist, dass seine Spieler den Kampf annehmen: „Diese Mannschaft hat einen tollen Charakter. Darauf kannst du hundertprozentig bauen.“
Hesse ist im Übrigen weit davon entfernt, die Lorbeeren für die sportliche Entwicklung alleine auf dem eigenen Konto zu sehen, doch ohne seinen Einsatz zusammen mit anderen Handball-Verrückten hätte der TSV vielleicht eher die 50 Jahre in der Verbandsliga vollgemacht. Der frühere Linksaußen, seit 18 Jahren handballerisch zu Hause in Kaldenkirchen, wechselte 2020 nach der aktiven Karriere (2004 bis 2016) als Co-Trainer und Sportlicher Leiter irgendwie auf die andere Seite. Bereits beim Amtsantritt als Chefcoach gab er die eindeutige Devise fürs Team aus, zu dessen aktuellem Kader immerhin elf aus dem eigenen Nachwuchs hervorgegangene Spieler gehören: „Wir wollen endlich hoch.“ Die Pandemie mit dem frühen Ende der Saison 2020/2021 nach nur fünf Spieltagen (damals Platz fünf/8:2 Punkte) durchkreuzte zunächst alle frischen Pläne, ehe der TSV mit einer 26:27-Niederlage gegen die HSG VeRuKa in die Serie 2021/2022 startete, 12:0 Zähler folgen ließ und sich selbst vom überraschenden 25:28 gegen TD Lank nicht aus der Bahn werfen ließ. Zum Abschluss des Jahres 2021 war das 28:21 über den Meisterschafts-Konkurrenten TV Kapellen (Vizemeister) ebenso ein Signal an die Konkurrenz wie die folgenden neun Siege Anfang 2022, die das Konto auf 40:4 Punkte hievten. Der erste Matchball ging dann mit dem 22:26 in Kapellen ins Leere, ehe es eine Woche darauf mit der Absage der Adler und zwei weiteren Pluspunkten vorzeitig so weit war.
Mit einer Prognose für die kommende Spielzeit ist der TSV trotz der Neuzugänge Jens Niehoff (zuletzt SV Neukirchen), Jens Dauben (ATV Biesel) und Dennis van Wesel (TV Angermund) nachvollziehbar lieber vorsichtig. „Wir wissen, wo wir herkommen“, erklärt Hesse, „wir bleiben auf dem Teppich. Unser Ziel ist ganz klar der Klassenerhalt.“ Der aus 26 Partien bestehende lange Weg ans rettende Ufer beginnt am 3. September beim TV Angermund, der in der vergangenen Saison nur ganz knapp und durch den Rückzug des VfB Homberg dem Abstieg in die Verbandsliga entging. Es folgen am 10. September das Heimdebüt in der Oberliga gegen die HSG Hiesfeld/Aldenrade, die Aufgabe am 18. September beim LTV Wuppertal und das Treffen am 24. September gegen den Titelfavoriten Borussia Mönchengladbach. Vor der ersten Saison-Unterbrechung steht anschließend noch das Spiel gegen den Mit-Aufsteiger HSV Überruhr (andere Verbandsliga-Gruppe) auf dem Programm, sodass die Kaldenkirchener mit einer echten Standort-Bestimmung in die Herbst-Schulferien gehen werden. Hesse weiß dabei, dass der TSV vermutlich unter anderem den Umgang mit mehr Frust lernen muss. Deshalb sieht er als unverzichtbar an, die „Mannschaft auch neben der Platte zu stärken“ und ihr die Entwicklung auf die nächste Ebene zuzutrauen. Fazit: In Kaldenkirchen haben sie nicht 42 Jahre lang daran gefeilt, aus der Verbandsliga in die Oberliga aufzusteigen. Sie sind gekommen, um zu bleiben. Trotz allem.