06. Oktober 2022 | Zurück zur Artikelübersicht » |
Am 12. Juni sieht Matthias Flohr die Dinge noch wie Jens Bürkle. Es ist der letzte Spieltag in der Saison 2021/2022 der 1. Bundesliga und HBW Balingen-Weilstetten verliert mit 26:33 beim HC Erlangen. Flohr, vorher drei Jahre als Spieler in Balingen und anschließend dessen Co-Trainer, hat gemeinsam mit Chefcoach Bürkle alles versucht, um den Klub vor dem Abstieg zu retten. Mit 16:52 Punkten müssen die Balinger als Vorletzter trotzdem runter – und im Grunde ist ja die für den Verein bittere Pille trotzdem erst der Anlass dafür, dass sich die Herren am kommenden Samstag auf der Platte wiedersehen. Was damals schon feststeht: Matthias Flohr übernimmt zur neuen Saison den Zweitligisten TSV Bayer Dormagen und HBW geht mit Bürkle in die 2. Liga. Nun ist es so weit: Die beiden Handball-Verrückten, die nahezu im selben Alter sind (Bürkle 41/Flohr 40), stehen sich am sechsten Spieltag erstmals zum direkten Duell auf der jeweils anderen Seite gegenüber, ehe fünf Monate später am 17. März 2023 im Bayer-Sportcenter das Rückrunden-Treffen folgt. „Ich müsste lügen, wenn ich sage, dass das kein besonderes Spiel ist“, sagt Flohr, der natürlich noch viele persönlich gute Kontakte in den Süden von Baden-Württemberg hat und mit seinem Ausbilder Bürkle freundschaftlich verbunden ist. Und weil Dormagens Trainer mit manchem Detail noch gut bis sehr gut vertraut ist, war diesmal sogar das Videostudium über den nächsten Gegner ebenfalls ziemlich ungewöhnlich: „Manchmal denkst du da, du bereitest dich auf dich selbst vor.“
Der Respekt vor Balingen ist jedenfalls groß und die aktuelle Situation des Aufsteigers mit 8:0 Punkten und der Tabellenspitze aus Flohrs Sicht keine Überraschung: „Die gehören da oben hin.“ Dabei erwiesen sich die Gastgeber gleich drei Mal als Meister der krimiähnlichen Unterhaltung – 34:33 bei den Eulen Ludwigshafen, 27:26 beim TV Hüttenberg, 28:27 gegen den TV Großwallstadt. Die Dormagener verspüren auf der anderen Seite wenig Lust, diese Art von Abend-Unterhaltung mitzumachen – erst recht nicht nach dem eigenen 23:24 zuletzt gegen den VfL Potsdam. Vielleicht wird es gerade deshalb wieder besonders spannend in dieser Partie, in der Dormagen, als Zwölfter mit 4:4 Zählern ausgestattet, wohl der Außenseiter ist – obwohl die Hausherren momentan mit durchaus nicht kleinen personellen Sorgen zu kämpfen haben. „Das ist für uns die vielleicht schwierigste Aufgabe überhaupt“, sagt Flohr. Und nicht nur nebenbei erwähnt er, dass seine Mannschaft natürlich ganz eigenen Ideen verfolgt, die höchstwahrscheinlich so gar nicht zu denen der Balinger passen: „Es gibt kein Spiel, das von vornherein verloren ist. Auch wir sind für was Besonderes gut. Ein Sieg ist absolut möglich.“ Beim Versuch einer Überraschung (was aus Flohrs Sicht ein Sieg des TSV wäre) wird allerdings der verletzte Kapitän Patrick Hüter (umgeknickt) erneut sicher nicht zur Verfügung stehen.
Was HBW gerade zu Hause zu leisten vermag, bekamen in der vergangenen Saison vor allem die Top-Teams SG Flensburg-Handewitt und Füchse Berlin zu spüren, die sich in der Sparkassen-Arena jeweils mit einem 23:23 begnügen mussten – zwei Resultate, an denen Matthias Flohr mit seinen Ideen direkt beteiligt war. Ob er jetzt gegen seinen Lehrer Bürkle ebenfalls etwas Unerwartetes aus dem Hut zu zaubern vermag? „Er weiß ja auch, wie ich denke“, findet Schüler Flohr. Die Vorbereitung war im Übrigen trotz allem wie immer eher „normal intensiv“ und Dormagen bemüht, an den vorhandenen eigenen Baustellen zu arbeiten. Einer der Kernpunkte: Der in der Abwehr überdurchschnittlich gute TSV Bayer (m Durchschnitt 25,5 Gegentreffer) gehört mit 103 in vier Spielen erzielten Treffern (Durchschnitt 25,75) erneut zu den Klubs mit den schwächsten Angriffs-Quoten. Noch weniger haben bisher nur der Vorletzte HC Empor Rostock (91) und TuSEM Essen (102) erzielt, das mit einem bescheidenen Schnitt von 25,5 daherkommt.
Die mangelhafte Chancenverwertung zieht sich praktisch wie ein roter Faden durch die bisherigen Auftritte der Essener, die nach dem 26:15 vom Meisterschafts-Beginn gegen den bis heute punktlosen HC Empor Rostock (Vorletzter/0:10) mit 23:29 bei den Wölfen Würzburg verloren, ehe ihnen ein 30:22 über den HC Motor Zaporizhzhia gelang – das aber sportlich bedeutungslos war/ist, weil die Mannschaft aus der Ukraine außer Konkurrenz am Spielbetrieb teilnimmt. Dann unterlag Essen bei der HSG Nordhorn-Lingen mit 23:27, während sie gegen die SG BBM Bietigheim selbst ohne den an der Schulter verletzten Eloy Morante Maldonado wenigstens die 30-Treffer-Grenze erreichte. Das änderte allerdings nach dem 30:33 wenig an Hegemanns Einschätzung: „Wir haben viele gute Chancen rausgearbeitet, sie aber nicht genutzt.“ Obwohl TuSEM zugleich erstmals mehr als 30 Gegentreffer hinnehmen musste, steht die Abwehr vor den beiden Torhütern Sebastian Bliß und Lukas Diedrich mit insgesamt 104 Gegentoren aus vier Spielen (Durchschnitt 26) immer noch besser da als etwa jene des Spitzenreiters Balingen-Weilstetten (107/26,75). Und Branchenführer sind hier zurzeit der Dritte TV Großwallstadt und der Zweite ThSV Eisenach (jeweils 8:2 Punkte), die nach fünf Partien bei einem Schnitt von 22,4 (insgesamt 112) und 23 (115) stehen. Das lässt jetzt erahnen, was am Samstagabend auf die Essener zukommt: Sie müssen in Eisenach bei der zweitbesten Defensive der Liga antreten – und sich damit vorne dringend steigern.
Hegemann, der natürlich viel Respekt vor den Hausherren hat, hofft zuerst, dass die gegen Bietigheim fehlenden Morante Maldonado und Finley Werschkull (krank) wieder an Bord sind. Unter dem Strich weiß er jedoch, dass da selbst in bester Besetzung eine ziemlich hohe Hürde im Weg steht: „Um zu bestehen, ist Top-Niveau gefragt.“ Und natürlich wäre ein Erfolg des immer noch in einem Umbau- und Lernprozess steckenden Teams wegweisend für den weiteren Verlauf der Serie, zumal die aktuell 2:6 Zähler und Rang 15 sicher keine grenzenlose Begeisterung auslösen. Dass die Essener aber auf der anderen Seite immer für eine für sie günstige Überraschung gut sind, weiß Hegemann-Kollege Misha Kaufmann sehr genau. Und Hegemann hätte wenig dagegen, falls die genau jetzt in Thüringen gelingt.