29. Mai 2023 | Zurück zur Artikelübersicht » |
Der Sport ist seine Leidenschaft und der Handball ganz besonders. „Er geht über alles“, sagt Simon Schöller. Bis in die Oberliga hat es der 24 Jahre alte Linkshänder geschafft, weil er viel für sich und seine Entwicklung tut und weil er sich sehr wohlfühlt in Palmersheim, das sich selbst das Handball-Dorf nennt, was in diesem Fall auch zutrifft: Die rund 1200 Einwohner sind ein Teil der Stadt Euskirchen und zum durchaus nicht kleinen Teil wirklich handballverrückt, wie sie bei Heim- und Auswärtsspielen des TVP regelmäßig unter Beweis stellen. Simon ist ein Teil dieser Gemeinschaft und das, was in einer etwas neueren deutschen Wortschöpfung als Teamplayer gilt – also als einer, der sich als klassischer Mannschaftsspieler sehr gerne in den Dienst des gemeinsamen Ganzen stellt. Trotzdem zieht es ihn jetzt hinaus in die größere Handball-Welt, denn Simon Schöller nimmt an den Weltmeisterschaften in Kopenhagen teil. Im März hatte er Bundestrainer Alexander Zimpelmann beim ersten Lehrgang in Henstedt-Ulzburg und bei seinem Nationalmannschaft-Debüt im Testspiel gegen den Barmstedter MTV aus der Hamburg-Liga (26:33) auf Anhieb überzeugt und sowieso schon vorher kurz entschlossen gezeigt, wie wichtig ihm die doch relativ kurzfristige Einladung/Nominierung war: „Ich habe mich am Freitagmittag ins Auto gesetzt und bin hochgefahren. Das hat sieben Stunden gedauert.“ Der zweite Lehrgang in Haßloch (Rheinland-Pfalz) vom 17. Mai bis 21. Mai mit dem Test gegen die „Allstars des pfälzischen Handballs“ (27:29) war anschließend ebenfalls ein Erlebnis. Mit von der Partie im Übrigen als Teil des Trainerteams bei den Allstars: Henning Fritz, früherer Weltklasse-Torhüter und Mitglied der legendären Weltmeister-Mannschaft von 2007. Und die Nachricht, die jetzt schriftlich (per E-Mail) und damit amtlich bei Simon Schöller eintrudelte, bringt ihn irgendwie auf die Spuren von Henning Fritz: Notiert ist da nämlich die offizielle Nominierung für den Kader, der Deutschland bei der WM der Gehörlosen ab dem 1. Juli vertritt – in der Metropole jener Handball-Nation Dänemark, die zurzeit das Maß aller Dinge nicht nur in Europa ist.
Als sich Bundestrainer Zimpelmann Mitte März bei seinem Trainerkollegen Peter Trimborn in Palmersheim meldete, ging es zunächst besonders darum, das Einverständnis des damals noch mitten im Kampf um den Klassenerhalt steckenden Oberliga-Aufsteigers für eine Abstellung seines Linkshänders einzuholen – die allerdings für Trimborn nicht eine Sekunde in Frage stand. Er antwortete spontan: „Das ist kein Thema, weil eine solche Chance nicht in jeder Schublade liegt.“ In Wirklichkeit steht sowieso ganz Palmersheim hinter seinem Spieler, der logischerweise für den ersten Lehrgang auch die Meisterschafts-Partie des TVP am 11. März beim Mit-Aufsteiger Stolberger SV verpassen durfte – und vermutlich ziemlich erleichtert war, dass die Mannschaft zu Hause trotzdem durch ein 34:27 wichtige Punkte sammelte. Vor einem echten Gewissens-Konflikt hätte Simon Schöller gestanden, wenn Palmersheim in der Oberliga Mittelrhein beim Saisonfinale zuletzt am 20. Mai noch in Gefahr gewesen wäre – weil der Termin voll mit dem zweiten Lehrgang und der Entscheidung über die WM-Nominierung kollidierte. Für den Verein völlig klar: „Er hätte fahren müssen.“ Für Simon völlig klar: „Palmersheim geht vor.“ Das hätten sie ihm dort vermutlich bei allem Verständnis intensiv ausgeredet, doch am Ende erledigte sich der drohende Zwiespalt von selbst, weil der TV am vorletzten Spieltag durch das nicht unbedingt erwartete 26:24 über den Birkesdorfer TV alle Zweifel am Klassenerhalt rechtzeitig beseitigte.
Wer sich mit Simon Schöller unterhält und seine im Alter von drei Jahren festgestellte Schwerhörigkeit nicht kennt, wird davon so schnell nichts merken. Modernste Hörgeräte-Technik macht – erst recht in einer ansonsten relativ ruhigen Umgebung – eine normale Unterhaltung möglich. Dabei kommt ein junger Mann zu Vorschein, der unaufgeregt über seine Behinderung spricht, die er am liebsten gar nicht als solche in den Vordergrund rückt. Privat und beruflich hat es damit sowieso nicht nur seinen Frieden gemacht, sondern darin eine Art Berufung erkannt und schließlich in einen Beruf umgesetzt. Er fand dadurch die Antwort auf die Frage nach der Zukunft im Anschluss ans Abitur: „Ich wusste nicht, was ich machen will.“ Die Entscheidung zugunsten der Akustik, einer Art Handwerk des Hörens, hat Simon Schöller später nie bereut – im Gegenteil. Als Meister seines Fachs kann er anderen Menschen helfen und sich aufgrund eigener Erfahrungen besonders gut in sie hineinversetzen. Ganz nebenbei weiß Simon Schöller logischerweise, wie in diesem Bereich die für ihn persönlich beste Lösung aussieht – neben der Platte und erst recht darauf. Das wiederum ist immer noch eine relativ komplexe Angelegenheit. Sie funktioniert nur dann, wenn sich alle darauf einlassen und einen Kompromiss zur besten möglichen Verständigung finden.
Oft funktioniert die Ansage eines Spielzuges über einen entsprechend lauten Ruf über das halbe Feld – was in einer Halle bisweilen selbst für den sonst recht gut hörenden Handballer schwierig genug ist. Zum Handwerkszeug der Gehörlosen zählt deshalb eine Mischung aus Zeichensprache, Lippenlesen und ganz viel Aufmerksamkeit/Hinwendung für den anderen. Das ist bei der Nationalmannschaft noch wichtiger als ohnehin schon, weil dort im Spiel die Benutzung von Hörhilfen jedweder Art untersagt ist – um eine Chancengleichheit herzustellen zwischen den Spielern mit den unterschiedlichsten Formen der Beeinträchtigung, die darüber hinaus in verschiedene Schweregrade eingeteilt ist. Wer in die Gehörlosen-Nationalmannschaft will, muss ohnehin über einen Test nachweisen, dass er nicht noch zu viel hört und deshalb ebenfalls einen zu großen Vorteil gegenüber anderen hätte. Bei Simon waren die Werte vor einigen Jahren noch zu gut ausgefallen, ehe er nun vor einiger Zeit die Anforderungen erfüllte und erneut daran bauen konnte, sich seinen Traum von einer Zukunft als deutscher Nationalspieler zu erfüllen.
Dass Simon den Sprung in den WM-Kader geschafft hat, verwundert wohl am wenigsten die Palmersheimer, die seit der früheren Jugend der einzige Verein des Linkshänders sind. „Er ist absolut integriert“, sagt sein Klub-Coach Trimborn, „er ist in der Mannschaft voll anerkannt, er ist unsere Stimmungskanone. Seine Stärken sind Schnelligkeit und Ausdauer.“ Simon Schöller, der seit seinem ersten Seniorenjahr mit Trimborn zusammenarbeitet, ist mit dem TVP aus der Kreisliga bis in die Oberliga aufgestiegen und hat sich in dieser Zeit selbst ständig entwickelt. Dass es weiter Luft nach oben gibt, wissen dabei alle Beteiligten. „Seine Wurfvarianten sind ausbaufähig“, findet Trimborn. Schöller, dessen freundschaftliches Verhältnis zum Trainer von höchster Wertschätzung geprägt ist, sieht das genauso: „Ich muss noch mehr einen klaren Kopf beim Wurf bewahren und lernen, die Übersicht nicht zu verlieren.“ Die ausgeprägt guten Fähigkeiten in den Teil-Disziplingen Springen und Laufen kommen im Übrigen nicht von ungefähr, weil der etwas jüngere Simon Schöller bis zur endgültigen Entscheidung für den Handball regelmäßig als Leichtathlet unterwegs war. Diese Schwerpunkt-Entscheidung hat er nie bereut – heute noch viel weniger als im Rückblick: Der Neu-Nationalspieler begann dereinst als Torhüter. Deren Wirken nötigt ihm nun zwar Respekt ab, doch viel lieber ist ihm das Geschehen auf der Platte. Dabei ist Simon Schöller, falls gewünscht, gerne bereit, eine Art Umschulung durchzuführen.
In Palmersheim ist er fest als Rechtsaußen gesetzt – ohne die Chance, den ganz wesentlichen Einfluss auf das Spiel zu nehmen. „Der Rechtsaußen entzieht sich immer ein bisschen der Verantwortung“, findet Simon. Was er sagen will: Er ist auf das angewiesen, was die anderen vorbereiten, und im Idealfall die letzte Verwertungs-Station bei einem Spielzug oder Tempogegenstoß. Dass er jetzt in der Nationalmannschaft im rechten Rückraum gebraucht wird, verändert seinen Blick aufs Spiel komplett: Der Wechsel bringt auch mehr Körperkontakt und mehr Verantwortung, der er sich gerne stellt. „Ich fühle mich wohl auf der Bühne halbrechts“, berichtet Schöller, der die Verantwortlichen der Nationalmannschaft jetzt beim Lehrgang in Haßloch und bei Testspiel erneut von sich und seinen Qualitäten zu überzeugen wusste. „Wir haben insgesamt einen super Schritt nach vorne gemacht“, findet Bundestrainer Zimpelmann, der selbst schwerhörig ist, „Simon hat das beim Lehrgang hervorragend gemacht. Er ist eine Bereicherung fürs Team, auch menschlich.“ Und wenn er sich einer Sache sicher sein darf, ist es diese: Simon Schöller wird deshalb nicht abheben. Er wird weiter hundert Prozent geben und er sieht es als Ehre an, für Deutschland nicht nur in einem Test, sondern nun bei einer großen Meisterschaft im Trikot mit dem Adler drauf spielen zu dürfen. Zimpelmann wird ihm gleichzeitig noch raten müssen, mit den Kräften etwas hauszuhalten: „Simon ist einer, der immer Vollgas gibt.“ Was er damit ausdrücken will: Über die Distanz einer Partie könnte hin und wieder weniger etwas mehr sein.
Um an den letzten Feinheiten zu feilen, trifft sich der Nationalkader in der direkten WM-Vorbereitung vom 7. bis zum 11. Juni in Hollenstedt (Niedersachsen). „Die Spieler haben bis dahin Hausaufgaben mitbekommen“, sagt Alexander Zimpelmann, „Hausaufgaben sind in diesem Fall Lauf-Aufgaben.“ Die wiederum sind für den Ex-Leichtathleten Simon Schöller sicher kein Bereich, der ihm besonders viel Furcht einjagt, und er wird das geforderte Pensum sowie den Nachweis dafür relativ ordentlich abliefern können. Ob sich mit der Zeit und dem Näherrücken der WM vielleicht so etwas wie Nervosität einstellt? Vielleicht. Die „Deaf Boys“, wie sie sich selbst nennen, planen allerdings viel eher, in Dänemark ihr ganzes sportliches Können in die Waagschale zu werfen, und nicht zuletzt wollen sie jeden Moment des Turniers genießen. Nach der Anreise folgt am 3. Juli die Eröffnungsfeier, ehe die Spiele in der Gruppe A auf dem Programm stehen – am 4. Juli gegen Kenia, am 6. Juli gegen Gastgeber Dänemark und am 9. Juli gegen Serbien. Anschließend sieht der bisher bekannte Ablauf so aus: Nach dem Viertelfinale am 11. Juli und dem Halbfinale am 13. Juli warten am 14. Juli die Platzierungsspiele (fünf/sechs, sieben/acht) sowie am 15. Juli das Spiel um den dritten Platz und das Finale. Das Ziel der Mannschaft? „Eine Medaille soll es auf jeden Fall sein – und niemand hätte was dagegen, wenn tatsächlich der Griff nach Gold gelingt. „Dazu müssen wir auch Kroatien schlagen“, weiß Schöller, der im Mai 2022 noch nicht dabei war, als Deutschland im Finale der Deaflympics (gelten als Olympische Spiele der Gehörlosen) in Brasilien mit dem 21:32 gegen den Favoriten eine klare Niederlage hinnehmen musste.
Dass für die WM bei Neu-Nationalspieler Simon Schöller die Handball-Pause nach der langen Saison 2022/2023 praktisch ins Wasser fällt? Geschenkt. In Palmersheim treffen sie sich in der Vorbereitung auf 2023/2024 bereits am 20. Juni zum Wiederbeginn des Trainings. Simon Schöller wird so viele Einheiten wie möglich (am liebsten alle) mitnehmen, ehe er sich auf den Weg zur Nationalmannschaft macht. Ob Trimborn den Plan für sein Oberliga-Team so aufgestellt hat, dass es nach dem Finaltag in Kopenhagen zu Hause erst am 22. Juli auf der Platte weitergeht? Es ist eher unromantisch so: In der Peter-Weber-Halle wird die Grundreinigung durchgeführt. Der romantische Teil im Dorf sieht so aus: Das passt allgemein ganz gut, weil am 15. Juli die Hochzeit von Regisseur René Lönenbach ansteht – die Simon Schöller wie alle Mitspieler unbedingt mitfeiern will. Zur Not und falls es denn machbar ist, will sich Simon deshalb in Kopenhagen in ein Flugzeug setzen, um zu Hause dabei zu sein. Vielleicht kommt es ja als Weltmeister zurück und vielleicht können alle die anberaumte Hallen-Schließung anschließend ganz gut zur Erholung gebrauchen.
Wenig später steht dann das nächste Spiel des TVP auf dem Programm – nicht gegen Kenia, nicht gegen Dänemark, nicht gegen Serbien, nicht gegen Kroatien. Es ist an jenem 22. Juli ein Test gegen den Landesliga-Aufsteiger TuS Chlodwig Zülpich. Jede Wette: Simon Schöller wird hundertprozentig in der Halle sein und am liebsten würde er an der Seite seines gerade verheirateten Teamkollegen Lönenbach wohl 60 Minuten spielen – weil der Sport seine Leidenschaft ist und der Handball ganz besonders. Und eventuell werden sie sich bei den Palmersheimern irgendetwas nicht nur für René Lönenbach, sondern auch für Simon Schöller einfallen lassen. Sein Traum ist schließlich ein bisschen auch ihr Traum.