Oberliga Niederrhein
Wenig Budget, viel Herz: So tickt St. Tönis
Verbandsliga-Meister ist heiß aufs Abenteuer in der höheren Klasse. Der Saisonstart wird vor allem für Trainer Zoran Cutura was Besonderes.

Hier ist die Wand: Trainer Zoran Cutura (Mitte) und seine Mannschaft konnten sich auch beim für den Aufstieg entscheidenden Sieg bei der DJK Adler Königshof II auf starke Unterstützung durch ihre Fans aus St. Tönis verlassen. (Foto: TSST)

Was haben die Kölsch-Rocker von Wolfgang Niedeckens BAP und die Handballer der Turnerschaft St. Tönis gemeinsam? Auf den ersten Blick wenig bis gar nichts: Niedecken ist nicht unbedingt als ausgewiesener Handball-Fan bekannt und ob wenigstens ein paar Sportler die Musik der Kölner lieben, steht auch in den Sternen. Ganz sicher gibt es aber eine Gemeinsamkeit, die sich um die Zahl 42 dreht. BAP haben es schon damals auf dem dritten Album ihrer damals noch relativ jungen Karriere geahnt: „Verdamp lang her.“ Das dürfen sie sich heute auch bei den Handballern sagen, die vor ein paar Wochen nach einer sehr, sehr langen Reise endlich ihr Ziel erreichten: Nach 42 Jahren gelang den ersten Männern mit der Meisterschaft in der Verbandsliga die Rückkehr in die Oberliga Niederrhein – und das ist tatsächlich eine echt lange Spanne zwischen damals und heute. Am Ende der Serie 2021/2022 hatte das von Zoran Cutura trainierte Team noch dem Ersten TSV Kaldenkirchen und dem Zweiten TV Kapellen den Vortritt lassen müssen, ehe es nun bei 44:8 Punkten klar vor der Konkurrenz landete. Für Cutura ist der Erfolg aber kein Hexenwerk, sondern die logische Folge des vor einiger Zeit eingeschlagenen Weges. „Wir sind eine eingeschworene Truppe“, sagt der Handball-Verrückte.

Als er vor fünfeinhalb Jahren die Erste übernahm, lief es im Jahr eins nach dem Aufstieg in die Verbandsliga nicht besonders gut: Nach nur zwei Punkten aus neun Spielen (2:16) endete die Amtszeit des damaligen Trainers Jürgen Hampel im Dezember 2017 vorzeitig und Cutura, seinerzeit bereits für die Zweite der TS St. Tönis zuständig, übernahm – was alle mit der Hoffnung verbanden, die Klasse zu halten. Das gelang aus zweierlei Gründen: Erstens gab es in der 13er-Gruppe nur einen Absteiger und zweitens sprangen nach dem missratenen Start bis zum Ende der Serie immerhin 15:15 Zähler und eine ausgeglichene Bilanz heraus. Es war der nach außen sichtbare Anfang einer Wende zum Besseren, die nicht von ungefähr kam – weil sich die Verantwortlichen zu einem konsequenten Schritt entschlossen und aus der Not eine Tugend machten. „Wir haben unsere A-Jugend hochgezogen“, sagt Cutura. Nicht nur in seinen Augen hat sich das damalige „Risiko“, das in Wirklichkeit höchstens ein mutiger Plan war/ist, längst ausgezahlt – wobei auszahlen und bezahlen in St. Tönis wie Fremdworte aus einer anderen Sprache gelten: „Wir haben keine Möglichkeit, Spieler von auswärts zu verpflichten.“ Gemeint ist: Gegen Zahlung einer bestimmte Summe pro Monat zu verpflichten.

Sagen will Cutura damit, dass niemand die Chance hat, in St. Tönis den einen oder anderen Euro zu verdienen – was in der Oberliga ansonsten durchaus üblich ist. Die Antwort auf eine entsprechende Anfrage fällt bei den Verantwortlichen für den Trainer immer identisch aus: „Geht nicht. Haben wir nicht. Können wir uns nicht leisten.“ Deshalb war es nur konsequent, dass in Johannes Borgmann und Jonas Wingert bereits im Laufe der vergangenen Saison zwei talentierte Spieler aus den eigenen Reihen den Sprung in den Herren-Kader vollziehen konnten/sollten. In der engen Verzahnung mit A-Jugend und eigener zweiter Mannschaft, die ebenfalls als Sprungbrett nach oben dient, sieht St. Tönis im Übrigen sowieso das Rezept, um in der Oberliga Niederrhein zu bestehen – was gleichzeitig nicht heißt, dass Zugänge von außerhalb verboten sind. „Wir lassen alles zu“, erklärt Cutura, „auch jetzt kommen wieder Leute zu uns.“ Was alle wissen müssen: Sie gehören einem Verein an, der im neueren Deutsch als „Low-Budget-Unternehmen“ durchgeht, in dem die Spieler für einen Teil der Kosten selbst aufkommen müssen. Bestes Beispiel ist das Sommer-Trainingslager der Mannschaft in Ungarn. „Die Jungs bezahlen den Flug aus eigener Tasche“, berichtet der Coach, der dank erstklassiger Kontakte in seine Heimat eine für Oberliga-Verhältnisse ungewöhnliche Maßnahme organisieren konnte. An vier Tagen stehen jeweils sechs Stunden Training auf dem Programm und für einen passenden Testspielgegner hat Zoran Cutura ebenfalls gesorgt.

Die zurückliegende Saison begann für St. Tönis eher überschaubar gut, denn am zweiten Spieltag gab es mit dem 23:25 gegen den Verbandsliga-Aufsteiger ASV Süchteln eine bittere Heimpleite. Im weiteren Verlauf folgten aber lediglich zwei zusätzliche Niederlagen – in der Hinrunde mit dem 32:34 beim TV Borken und in der Rückrunde mit dem 25:28 beim HC Rot-Weiß Oberhausen, den der spätere Meister in Teil eins der Serie klar mit 34:22 bezwungen hatte. Den Rückschlag gegen Süchteln korrigierte der Neu-Oberligist am Anfang der zweiten Serie beim ASV durch ein 32:31, das Alexander Bruchhaus mit einem verwandelten Siebenmeter in der 58. Minute sicherte. In der Summe ergaben sich bei 21 Siegen, zwei Unentschieden und den drei Niederlagen jene 44:8 Zähler, an die nicht mal der Zweite Oberhausen (38:14) herankam. So bot sich dem Spitzenreiter am drittletzten Spieltag bei der DJK Adler Königshof II die Gelegenheit, den Aufstieg vorzeitig mit dem Siegel „amtlich“ zu versehen – und Cuturas Team ließ sich nicht zweimal bitten, sondern es gewann insgesamt souverän (27:20).

Haltestelle: Christos Karavasilis (rechts/Nummer 34) und Niklas Nelsen (Nummer 73) griffen für St. Tönis bei Bedarf beherzt zu – wie hier Königshofs Jonathan Leven (mit Ball) zu spüren bekommt. (Foto: TSST)

Dass die beiden restlichen Aufgaben gegen den HSV Dümpten (Fünfter/29:25) und erst recht jene bei der TS Lürrip (Achter/24:24) etwas zäher über die Bühne gingen, konnten alle Beteiligten im Mai 2023 locker verschmerzen. In Lürrip brachte St. Tönis immerhin die Energie auf, nach einem 19:23-Rückstand (53.) noch ein Unentschieden mitzunehmen. Diesmal waren die 60 Minuten am Ende eine Art Kai-Wingert-Festspiele, denn der Regisseur erzielte alleine sieben seiner elf Treffer in der letzten Viertelstunde. Neben Wingert (177) übertrafen auch Alexander Bruchhaus (126) und Pascal Binger (107) die Marke von 100 Saisontoren. Als Mannschaft war St. Tönis der einzige Klub in der Gruppe 1 der Verbandsliga, der mit 795 Treffern aus 26 Spielen die Grenze von 30 Toren pro Spiel knackte (Durchschnitt 30,57)

Aufs Premierenjahr nach der Rückkehr in die Oberliga, die sie als Abenteuer sehen, freuen sich alle in St. Tönis – wegen des sportlichen Wertes allgemein und der bevorstehenden Derbys ganz besonders. So liegt speziell Krefeld praktisch nur einen Steinwurf weit entfernt und die knapp sechs Kilometer ließen sich selbst mit der Straßenbahn ganz gut zurücklegen. Attraktiv wird jedoch nicht nur der Auftritt am siebten Spieltag bei der DJK Adler Königshof I, die mit ihrem Spielertrainer Sebastian Bartmann zuletzt als Dritter über die Ziellinie kam und auch 2023/2024 zum oberen Drittel gehören dürfte. Noch interessanter dürfte der Saisonstart am 26. August sein – bei Handball Oppum, das in der vergangenen Saison mit erheblicher Mühe soeben den Klassenerhalt schaffte. Oppums Trainer ist schließlich Zorans Bruder Ljubomir Cutura und beide hatten für die Vorbereitung eigentlich ein Testspiel zur Saison-Eröffnung gegeneinander ausgemacht. Dass sie es irgendwann im Laufe der Hinrunde auf der Platte miteinander zu tun haben würden, stellte beide unter dieses Mott0: „Was solls? Wir machen es trotzdem.“ Weil der Terminplan nun doch relativ ungünstig ist, fällt die Testpartie allerdings lieber aus. Dem Beginn der Meisterschaft fiebert Zoran Cutura dennoch entgegen: „Ich freue mich auf meinen Bruder.“ Außerdem ist es ja verdammt lange her, dass St. Tönis ein Oberligaspiel bestritten hat.