08. Mai 2021 | Zurück zur Artikelübersicht » |
Der Handball schreibt tolle Geschichten und diese gehört dazu. Dabei kommt der Anfang wie aus dem Nichts, denn der Anruf aus Essen katapultiert Christopher Wolf von der handballerischen Couch direkt in die Bundesliga. Weil der Aufsteiger aus dem Ruhrgebiet größere Probleme hat und Wolfs Drittligist Longericher SC coronabedingt seit Monaten keinen Einsatz, kommt es Mitte März zum Blitzgeschäft. Trainer Jamal Naji, der Wolf bestens kennt, fädelt den „Deal“ ein – bei dem allen Beteiligten die begrenzte Gültigkeit kennen. Am 20. März geht es mit dem 27:20 gegen den TVB Stuttgart los. Am vergangenen Mittwochabend (5. Mai) endet das nach dem Regelwerk der HBL bei Verpflichtungen außerhalb der üblichen Fristen nur bei Verletzungen von Stammkräften mögliche und auf acht Einsätze limitierte Abenteuer. Kurz vor Schluss gibt Naji dem mit 28 Jahren erfahrensten Feldspieler seines Kaders noch einmal das Zeichen, sich auf einen Einsatz vorzubereiten. Klar: Obwohl die Partie gegen den Bergischen HC beim Stande von 19:26 (54.) längst gelaufen ist, hängt sich Wolf voll rein – weil er es anders überhaupt nicht kann. Wenig später ist Feierabend. Essen hat mit 22:32 verloren und vorerst keiner der Beteiligten richtig viel Zeit für Wehmut. Wolf weiß, dass er gleich zum letzten Mal in die TuSEM-Kabine geht. Und was er ganz bestimmt sehr, sehr sicher weiß: Es war eine verdammt geile Zeit.
Wolf analysiert zunächst professionell-sachlich das eben Gesehene/Geschehene. „Das Ergebnis ist so deutlich natürlich bitter. Wir waren heute sicher nicht gut, aber auch keine zehn Tore schlechter. Wir haben ein bisschen Pech gehabt, was Abpraller angeht. Und wir haben ein paar freie Bälle verschossen. Es hat nicht geklappt, dass wir mal auf ein oder zwei Tore rankommen.“ Besonders prägende Szenen dürften die 45. und 46. Minute geboten haben. Tim Zechel hat gerade auf 18:21 (44.) verkürzt, ehe Tim Rozman frei an BHC-Keeper Thomas Mrkva scheitert (45.) und Arnor Thor Gunnarsson per Siebenmeter auf 22:18 (46.) für die Gäste erhört. Zwei Mrkva-Paraden später nimmt Jamal Naji beim Stande von 18:24 (49.) eine Auszeit, um größeren Schaden abzuwenden. Es gelingt seiner Mannschaft nicht, die keine Mittel zumindest für ein gutes Resultat findet. Was die Essener trotzdem auszeichnet: Da ihnen ihr bis vor gut zwei Monaten weitgehend unbekannter neuer Mitspieler ans Herz gewachsen ist, vergessen sie seinen Abschied nicht. Die vielen herzlichen Umarmungen zeigen beeindruckend, dass Christopher Wolf ein Essener geworden ist, einer von ihnen. Und längst gilt als beschlossene Sache, dass er keinesfalls so ganz geht. Zumindest mit den Gedanken wird Wolf ohnehin weiter intensiv verfolgen, ob den Essenern womöglich den Klassenerhalt gelingt. Weil sie bei TuSEM ganz gut rechnen können, wissen sie, dass dazu bei inzwischen acht Punkten Rückstand aufs rettende Ufer ein mittelgroßes Wunder erforderlich ist. Was das an der Leidenschaft fürs gemeinsame Projekt ändert? Nichts. „Solange es rechnerisch möglich ist, glaubt die Mannschaft daran. Ich drücke den Jungs die Daumen.“
Daraus ergibt sich fast logisch: Christopher Wolf bereut keine Sekunde, das sportliche Abenteuer eingegangen zu sein. „Es war spannend, eine mega Erfahrung. Und die Jungs sind echt super hier. Ich bin toll aufgenommen worden und es hat Spaß gemacht. “ Die sechs „normalen“ Gegner, mit denen es Essen während seiner Zeit in der „Ruhrpottschmiede“ zu tun hatte: TVB Stuttgart, HSG Nordhorn-Lingen, TSV GWD Minden, MT Melsungen, HBW Balingen-Weilstetten, Bergischer HC. Hinzu kamen in der Halle „Am Hallo“ jene Duelle mit zwei ganz Großen des deutschen Handballs, die Wolf wohl für immer in einer Kiste mit den besonders wertvollen Erfahrungen aufbewahren wird. Beim Krimi gegen die SG Flensburg-Handewitt (28:29) stand TuSEM einem Ensemble um die schwedischen Weltklasse-Handballer Jim Gottfridsson und Hampus Wanne sowie dem deutschen Nationalspieler Johannes Golla gegenüber, kurz darauf beim lange offenen Spiel gegen den THW Kiel (27:31) den nicht weniger stark besetzten Zebras mit dem dänischen Keeper Niklas Landin, dem Norweger Sander Sagosen oder den deutschen Nationalspielern Patrick Wiencek und Hendrik Pekeler – mit denen Wolf gegen Ende gemeinsam auf dem Feld stand. Anzeichen von Respekt oder Nervosität? Nicht zu erkennen. Der Kölner warf sich ins Geschehen, als hätte er regelmäßig mit derart hochkarätiger „Kundschaft“ zu tun.
Und vermutlich konnte nicht ausbleiben, dass Christopher Wolf auf den Geschmack gekommen ist: „Ich hätte die Saison gerne zu Ende gespielt, ich hätte sehr gerne weitergemacht. Aber ich durfte nur diese acht Spiele spielen und muss leider aufhören.“ Was in der allgemeinen Bilanz bleibt: Zwei der drei ersten Partien mit Wolf entschied der TuSEM für sich und in einigen anderen hielt er gut mit. „Die Mannschaft ist intakt“, sagt der inzwischen eher als Abwehrspezialist eingesetzte Rückraumspieler, „wir geben nie auf. Sonst wären solche Ergebnisse wie gegen Kiel oder Flensburg nicht möglich gewesen.“ Außerdem hat sich der Kölner nach eigener Einschätzung als Einzelspieler deutlich entwickelt: „Das taktische Training war auf einem anderen Niveau, ich habe auch andere Deckungssysteme kennengelernt und viel über Feinheiten gelernt – zum Beispiel, wann man am besten rausgeht. Das sind Dinge, für die wir bei uns in Longerich keine Zeit haben. Außerdem habe ich mich in den letzten Wochen an die Halle gewöhnt. Das habe ich anderen jetzt voraus.“ Angesichts des fast durchgängig täglich auf dem Programm stehenden Trainings der Essener dürfte Christopher Wolf keine großen Schwierigkeiten haben, wenn es beim LSC bald wieder in die Halle geht.
Lange über die weiteren Schritte nach seiner kurzen Karriere in der höchsten deutschen Klasse nachdenken musste Wolf nicht, denn er nahm direkt wieder voll seine Tätigkeit bei einem Fliesenleger/Trockenbauer auf. Ein Grund dafür war diese Selbst-Einschätzung: „Unter normalen Umständen gehöre ich da nicht hin.“ Gemeint ist die Bundesliga. Das sieht sein (Ex-)Trainer Jamal Naji zumindest ein wenig anders. „Chris war sofort in die Mannschaft integriert und alle sind super mit ihm zurechtgekommen. Er ist ein toller Typ. Außerdem hat er uns im Training mit seinen Fähigkeiten in der Deckung unfassbar viel Qualität gegeben“, findet Naji, der im Nachhinein vor allem eins schade findet: „Chris hat nicht so viel gespielt wie geplant. Das tut mir wirklich sehr leid. Aber manchmal haben sich die Spiele anders entwickelt und dann hat es sich nicht mehr ergeben.“ Eine Fortsetzung der Handballer-Laufbahn auf Top-Niveau würde er Wolf in der Bilanz der Zusammenarbeit über knapp zwei Monate trotzdem zutrauen: „Chris ist für mich einer der besten Abwehrspieler der 3. Liga. Und wer das ist, kann sicher auch an die 2. Liga denken. Das hängt natürlich davon ab, welche Schwerpunkte jemand legt.“ Genau diesen letzten Punkt hat Christopher Wolf für sich geklärt, denn es bleibt bei einem festen Ziel: „Ich will zur Feuerwehr.“ Irgendwann im nächsten Jahr soll es losgehen mit der Ausbildung. Und wie die Antwort ausfällt, falls doch wieder jemand in personeller Not anruft, könnte Wolf dann immer noch überlegen. Was er jetzt immerhin weiß: Handball in der Bundesliga gegen die Besten der Welt ist eine verdammt geile Angelegenheit.