Oberliga Mittelrhein
Das Vakuum: Einer muss rauf, keiner will runter
Vor dem Saisonstart ist kein Titelfavorit erkennbar. Vielleicht wird die Saison dadurch erst recht spannend. Die drei Aufsteiger sind gekommen, um zu bleiben.

Der Mann mit der Mütze: Ouassim Trabelsi, der bisherige Co-Trainer des nach Hamburg abgewanderten Stephan Schulze, trägt nun als Chefcoach die Verantwortung beim SC Fortuna Köln. Nicht nur die Fortuna ist gespannt, was die Saison bringt. (Foto: Thomas Schmidt)

Sie haben es auf den letzten Drücker doch noch offiziell vorgelegt – jenes lange vermisste Regelwerk, das amtlich unter „Durchführungsbestimmungen“ zu finden ist und unter anderem darüber Auskunft gibt, wie viele Mannschaften am Ende der Saison 2022/2023 in die Regionalliga aufsteigen dürfen. Die Zahl ist übersichtlich, lässt aber auf der anderen Seite an Klarheit wenig zu wünschen übrig: Einer wird gewinnen. Oder vielleicht muss eher einer gewinnen, denn niemand drängelt sich vor, keiner wirft seinen Hut in den Ring oder nimmt gar freiwillig eine Favoritenrolle ein – wie in der Vergangenheit auch. Weder die Regionalliga-Absteiger HSG Siebengebirge und TV Rheinbach noch der Vorjahreszweite TSV Bayer Dormagen II oder der in den vergangenen Jahren stets zur Spitze gehörende Pulheimer SC sehen irgendwie, dass sie das Feld anführen und sich am Ende in der Regionalliga wiederfinden. Unter dem Strich scheinen eher gefühlte 90 Prozent der Liga damit einverstanden zu sein, entweder von Anfang an nichts mit dem direkten Kampf gegen den Abstieg  zu tun zu haben – oder es reicht ihnen sowieso, in ein paar Monaten im Mai 2023 über dem Strich zu stehen. Das wiederum dürfte ziemlich spannend werden, denn es soll im ungünstigsten Fall gleich sechs Absteiger geben, auf jeden Fall allerdings mindestens drei (dann, wenn keiner aus der Regionalliga in die Oberliga Mittelrhein absteigt). Ein Grund: Die unverändert aus 16 Mannschaften bestehende und auf 30 Spiele pro Team hinauslaufende Klasse soll Ende 2022/2023 wieder bei ihrer Sollstärke  von 14 Teams angekommen sein. Das geht nicht ohne erhöhten Abstieg.

Eine der Mannschaften, die das Zeug zum Top-Favoriten gehabt hätte, ist nicht mehr dabei – und die HSG Refrath/Hand stellt sich nun der Konkurrenz in der Regionalliga Nordrhein. Der in einer Zentimeter-Entscheidung hinter den Refrathern auf Rang zwei gelandete TSV Bayer Dormagen II steht wohl bei einigen Konkurrenten ganz weit oben in der Liste der Top-Teams – aber nicht bei sich selbst. Die Mannschaft, für die 2021/2022 der inzwischen als Chefcoach zum Zweitligisten VfL Lübeck-Schwartau gewechselt David Röhrig verantwortlich war, ist aufgrund einiger Abgänge von Nachwuchskräften in ihrer Zusammensetzung stark verändert – und wird unter der Regie des neuen Trainers Martin Berger erst einmal sehen müssen, dass alle Räder ineinandergreifen. „Unser Aderlass ist massiv. Wir haben nur vier Oberliga-Feldpieler aus dem Männerbereich“, sagt Berger, „das ist eine Herausforderung.“ Was er meint: Er muss aus diesem Quartett und den zur Verfügung stehenden Talenten aus der A-Jugend (deren Trainer er ebenfalls ist) die richtige Mischung aufbauen. Schlimm oder gar beängstigend findet er das nicht – im Gegenteil. „Meine Aufgabe ist die Anschlussförderung und die, eine Brücke zu den ersten Männern zu bauen. Unser Weg ist es, die Talente weiterzuentwickeln“, betont Berger. Weil er es als echten Spagat sieht, den gesamten Prozess zu bewältigen, kommen seiner Ansicht nach zu forsche Vorstellungen einfach nicht in Frage. Trotz allem hätte er nichts dagegen, wenn möglichst viele Punkte auf dem Konto landen. Einfacher Grund: „Natürlich schmerzt jede Niederlage.“

Eher auf die Bremse tritt auch Kelvin Tacke, dessen Pulheimer SC in den vergangenen Jahren immer zur Spitzengruppe gehörte und zuletzt erst auf der Zielgeraden den Kontakt nach oben verlor. „Über ein Saisonziel zu sprechen, ist wie immer schwierig, weil uns aus beruflichen und anderen Gründen immer wieder Spieler fehlen und fehlen werden“, findet Tacke, „das beeinflusst die Konstanz und Kontinuität auf allen Ebenen.“ Seine Ansicht nach wird es ein paar (Saison-) Wochen dauern, bis die Hornets das gewünschte Niveau erreicht haben. Deshalb formuliert er diesen Standpunkt: „Wichtig für mich persönlich ist, dass wir uns sportlich stabil weiterentwickeln, um damit erfolgreich zu sein, und dass wir besonders unsere jungen Nachwuchsspieler weiter an das Thema Oberliga heranführen.“ Nach der großen Kampfansage hört sich das nicht an – und sie bleibt auch bei den beiden Regionalliga-Absteigern TV Rheinbach und HSG Siebengebirge aus. Spannend ist dabei unter anderem die Frage, wie Siebengebirge künftig ohne seinen besten Werfer Bjarne Steinhaus (136 Tore in 20 Spielen/zu den Bergischen Panthern in die 3. Liga) und endgültig ohne Regisseur Bastian Willcke (Karriere beendet) über die Runden kommt.

Wir vielleicht: Manche Konkurrenten trauen jedenfalls Trainer Lars Degenhardt (Mitte) und der HSG Siebengebirge die direkte Rückkehr in die Regionalliga zu. (Foto: Thomas Schmidt)

Grundsätzlich optimistisch wären wohl die Rheinbacher, denn sie sehen ihren Kader so breit aufgestellt ist nie – weil er trotz des Abstiegs weitgehend zusammengeblieben ist und Neuzugänge hinzugekommen sind. Größtes Handicap fürs Trainergespann Dietmar Schwolow/Jan Hammann: Es gibt, neben den üblichen kleineren Blessuren, ein paar langfristige Ausfälle. Die lange Liste reicht von Marcel Kurth (Kreuzband) über Simon Ollefs (Schulter) und Florian Genn (Knie) bis hin zu Torhüter Elias Hoven (Bänderriss) und Jakob Kazimierski (Sprunggelenk). Dem Start mit dem Heimspiel gegen den Aufsteiger TV Jahn Köln-Wahn fiebern sie in Rheinbach trotzdem entgegen. „Der Auftakt ist immer was Besonderes. Da ist es am Ende egal, wie die Vorbereitung war und wie viele Spieler verletzt sind. Die verbliebenen Spieler sind bereit und freuen sich, dass es endlich losgeht“, erklärt Schwolow. Mindestens ähnlich heiß dürften die Wahner sein, die sich 2020 freiwillig aus der Regionalliga verabschiedeten und jetzt mit einer zu weiten Teilen aus Eigengewächsen bestehenden Mannschaft aus der Verbandsliga in die Oberliga zurückkehrten. Trainer Thomas Radermacher hat die kommende Serie schon mal als „großes Abenteuer“ bezeichnet und eine nachvollziehbaren Plan: Im Vordergrund steht einzig und allein der Klassenerhalt.

Nicht viel anders sehen das der Stolberger SV und der TV Palmersheim als Meister und Vizemeister der Verbandsliga 2021/2022. „Wir haben einen kleinen Umbruch. Die Saison wird für uns eine große Herausforderung“, sagt Stolbergs Coach Christian Beckers, „mit dem alten Kader wären wir gut fürs Mittelfeld gewesen. Jetzt spielen wir gegen den Abstieg.“ Die Einschätzung ändert wenig daran, dass sie auch in der Nähe von Aachen auf die neue Saison hinfiebern: „Wir wollten da unbedingt hin, dafür haben wir drei Jahre hart gearbeitet. Viel hängt von der Entwicklung der jungen Leute ab.“ Denen traut er natürlich eine Menge zu und am Ende auch den Klassenerhalt. Einzige Voraussetzung: Die Stolberger werden seiner Ansicht nach regelmäßig ihr Leistungs-Maximum erreichen müssen. Mit-Aufsteiger Palmersheim bringt ein dickes Faustpfand mit – das auf den Namen René Lönenbach hört. Der 29-Jährige, einer der durchaus seltenen „Straßenfußballer“ im Handball, kam 2020 vom Regionalligisten TV Rheinbach zurück zu seinem Heimatverein – und ist dort ebenfalls ein Dreh- und Angelpunkt. Trainer Peter Trimborn weiß den Einsatz und die Qualitäten seines Spielmachers, der ein echter „Teamplayer“ ist und den manche als „Lebensversicherung“ bezeichnen, durchaus sehr zu schätzen. Gleichzeitig sieht er den Weg der vergangenen Jahre aus der Kreisliga bis in die Oberliga als Mannschafts-Erfolg an: „Wir stehen auch hinten ganz gut, wir leben sehr stark von der Abwehr. Wir haben uns stark entwickelt.“ Übertriebene Erwartungen ergeben sich daraus allerdings nicht. „Unsere Hoffnung ist ein gesicherter Mittelfeldplatz“, betont Trimborn, „wir werden von Spiel zu Spiel schauen. Die Hauptsache ist, dass wir nicht absteigen.“ In diesem Zusammenhang ist das Startprogramm mit den Aufgaben beim SSV Nümbrecht (28. August), gegen den TuS 82 Opladen II (beim MTV Köln (4. September) und bei Fortuna Köln (10. September) bereits spannend genug. Richtig rund wird es dann allerdings am 17. September im Derby gegen die Rheinbacher gehen, deren Anreise keine zehn Kilometer weit ist.

Eine noch spannendere Saison als zuletzt erwartet Trainer Cornelius Hesse für den ASV SR Aachen, der 2021/2022 nach turbulenten letzten Wochen mit dem späten Klassenerhalt ein Happy End erlebte. „Die kommende Saison steht vor allem im Zeichen des Umbruchs in unserer Mannschaft“ erläutert Hesse, „uns verlassen wichtige Stützen. Uns fehlen jetzt vier Leute aus der Start-Sechs. Glücklicherweise haben wir ein paar Neuzugänge bekommen. Wir müssen uns überhaupt erst einmal als Mannschaft finden. Außerdem war die Vorbereitung überschattet von Verletzungspech und Urlauben. Wir wissen, dass wir in den ersten Spielen vielleicht Lehrgeld zahlen müssen. Wir sehen nicht so sehr nach oben. Für uns wird viel interessanter, was unten passiert. Unser Ziel wird nach wie vor sein, die Liga zu halten.“ Vergleichbar sieht das Fortuna Köln – die aber gleichzeitig die Änderung auf einer zentralen Position verkraften muss: Stephan Schulze, der die Entwicklung der Fortuna in den vergangenen Jahren geprägt hat, ist nicht mehr an Bord, denn ihn hat es aus beruflichen Gründen in die Nähe von Hamburg gezogen. „Vor allem sein menschlicher und freundschaftlicher sowie immer fairer Umgang mit Spielern war sein Markenzeichen“, betont Roman Stabauer, der es als spielendes Mitglied der Abteilungsleitung besonders gut zu beurteilen vermag. Schulze-Nachfolger Ouassim Trabelsi, der bisherige Co-Trainer, freut sich mit der Mannschaft auf eine halbwegs normale Saison – die idealerweise überwiegend positive Ergebnisse bringt. „Die Liga ist meiner Meinung nach extrem stark geworden, daher fällt es schwer, eine Aussage bezüglich einer Zielsetzung zu treffen“, meint Stabauer, „oberste Priorität wird es wieder sein, mit dem Abstieg nichts zu tun zu haben. Außerdem wollen wir uns als Team spielerisch weiterentwickeln.“ In Bezug auf den Klassenerhalt könnte er sich mit dem Kollegen Phlipp Havers vom HC Weiden II abgesprochen haben: „Wir gehen mit dem Ziel in die lange Saison, uns im Idealfall von Beginn an aus dem Abstiegskampf herauszuhalten, auch wenn es das Auftaktprogramm sicherlich in sich hat und dies entsprechend schwierig wird.“

Kann losgehen: Trainer Frederic Rudloff und der Longericher SC II freuen sich darauf, dass es bald wieder in den Meisterschafts-Modus geht. (Foto: Thomas Schmidt)

Ebenfalls mit einem euen Mann an der Seitenlinie tritt der TuS 82 Opladen II an, der in der vergangenen Saison in der Meisterrunde als Vierter im vorderen Drittel der Klasse über die Ziellinie kam. Der Ur-Gummersbacher Philipp Jäger (28), der vor der vergangenen Saison vom Drittligisten SG Leutershausen nach Opladen gekommen war und seine aktive Karriere vor einiger Zeit verletzungsbedingt beenden musste, ist der Nachfolger von Stefan Scharfenberg (jetzt Co-Trainer bei der Ersten). Jäger ist – wie alle aus der Dynastie aus dem Oberbergischen – ein Handball-Verrückter, steht allerdings mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen. Seine Hauptaufgabe beim Unterbau des Drittliga-Teams : „Ich will die jungen Spieler weiterentwickeln.“ Wie es laufen wird? „Es ist ein bisschen eine Lotterie“, findet Jäger – im Wissen darum, dass manche Abläufe zum Beispiel in einem neuen Angriffs-System erst mit der Zeit optimal funktionieren werden. Bei allem Respekt vor der langen Saison ist Philipp Jäger natürlich von seiner Mannschaft voll überzeugt: „Wir haben eine coole Truppe.“ Vom Aufstieg sprechen sie rund um die Bielerthalle nicht. Aber auch nicht vom Abstieg. Und nicht mal vom erhöhten. Sicher ist immerhin, dass am Samstagabend die meisten deutlich mehr wissen werden – weil unter anderem Siebengebirge auf die Pulheimer trifft, Rheinbach auf die Wahner, die Fortuna auf den MTV Köln oder der Longericher SC II auf Dormagen II. „Die Jungs würden gern den Tabellenplatz aus der letzten Saison bestätigen“, sagt LSC-Trainer Frederic Rudloff, „das Niveau hat definitiv zugenommen, auch an Anbetracht der Absteiger. Wir sind bereit für den Start gegen Dormagen.“ Das würden vermutlich alle unterschreiben: Mögen die Spiele beginnen.