Regionalliga Nordrhein
„Oben mitspielen“: Ist der Titel echt schon an Interaktiv vergeben?
Die Ratinger müssen aufgrund ihres Personals als Top-Favorit für die Meisterschaft gelten. Den Fehdehandschuh wirft außerdem keiner hin.

Hände hoch: Matthias „Matze“ Puhle, der frühere Torhüter des VfL Gummersbach, ist das bekannteste neue Gesicht der Regionalliga. Auf sein Meisterschafts-Debüt für den OSC Rheinhausen dürften viele gespannt sein. (Foto: Herbert Mölleken)

Grundsätzlich ist es in manchen Klassen so, dass viele Vereine – wenn nicht alle – die Rolle des Favoriten und erst recht jene des Top-Favoriten dankend ablehnen. Die allgemeine Formulierung, die sich zunehmend breitmacht:  „Wir wollen oben mitspielen.“ Das ist auch in der Regionalliga so, wo es aber einen gibt, der es aufgrund weiterer Zugänge und seiner personellen Besetzung nach ein paar vergeblichen Anläufen unbedingt schaffen sollte: Interaktiv.Handball, bis zur vergangenen Saison unter dem Namen SG Ratingen bekannt, muss den Titel holen. Wenn nicht jetzt, wann dann? Trainer Ace Jonovski hat einen Kader mit einigen Akteuren zur Verfügung, die auf Erfahrung in 1. und 2. Liga zurückgreifen können. Ex-Profis wie Alexander Oelze waren bereits an Bord, ehe vor einem Jahr etwa Rückraumspieler Robert Markotic vom Bundesligisten TVB Stuttgart und Keeper Denis Karic vom Zweitligisten ThSV Eisenach kamen. Gleichzeitig holte die SG unter anderem Simon Ciupinski als Spielmacher von der HSG Krefeld, ehe für die Saison 2021/2022 weitere Qualität nach Ratingen wechselte: Der Pole Krzysztof Misiejuk (27) für den Kreis, der Bosnier Tomislav Nuic (32) als Linksaußen oder zuletzt als Last-Minute-Verpflichtung vom VfL Potsdam der 19 Jahre junge Manuel Epandi Sete, der als vielversprechendes Talent gilt und vielseitig einsetzbar ist. Trotzdem bemüht sich Trainer Jonovski sehr darum, die Auftaktpartie beim TV Rheinbach aus der Kategorie Selbstläufer herauszuholen: „Rheinbach hat eine gute, junge Mannschaft, die schnell ist und eine gute Abwehr stellen kann.“

Das werden sie in Rheinbach vielleicht ganz gerne hören, denn dort muss sich Trainer Dietmar Schwolow, der in Personal-Union Sportlicher Leiter ist, in der rauen Wirklichkeit mit einigen Problemen herumschlagen – und es geht ihm von Anfang an nur darum, irgendwie die Klasse zu halten. Vor einem Jahr gingen zum Beispiel in René Lönenbach und Oliver Dasburg zwei wesentliche Stützen der alten Rheinbacher Mannschaft, ehe in diesem Sommer Alex Schöneseiffen, Motoki Sato und Robin Voihs den Verein verließen. Dann musste der abwehrstarke Tobias Wolff sein Comeback-Versuch abbrechen und in Till Stief (Studium in Kiel) gibt es einen zusätzlichen Abgang auf den letzten Drücker. Chefcoach Schwolow und sein Co-Trainer Jan Hammann wollen die Herausforderung zusammen mit dem Team trotzdem annehmen und vor allem über eine starke Abwehr möglichst bestehen. Mehr Außenseiterrolle als zum Auftakt gegen Interaktiv geht trotzdem nicht. 

Wer den Ratingern am ehesten gefährlich werden kann? Dazu wäre wohl der TV Korschenbroich in der Lage, der allerdings vor seinem Start bei der HSG Siebengebirge auf eine klare Kampfansage verzichtet und ebenfalls „oben mitspielen“ will. Geht es nach der Qualität der Zugänge, müsste der HC Gelpe/Strombach ebenfalls in den Kreis der Titelanwärter aufrücken. Das Team von Trainer Michiel Lochtenberg, der ebenfalls in Personalunion als Sportlicher Leiter viel Verantwortung trägt, holte sich reichlich Klasse an Bord: Vom großen VfL Gummersbach kamen Tobias Schröter und Malte Meinhardt aus der 2. Liga als neue Flügelzange, während Tim Hartmann zuletzt über Jahre als Kapitän eine der prägenden Figuren beim Drittligisten Longericher SC war. Lochtenbergh will mit seinem Kader natürlich mehr erreichen als bloß den Klassenerhalt, bleibt jedoch ungenau: „Es ist schwierig, ein genaues Ziel zu formulieren.“ Das ist bei der HG Remscheid ganz ähnlich, weil bereits kurz vor dem Beginn der Saison und der Partie gegen den MTV Rheinwacht Dinslaken das Verletzungspech zugeschlagen hat: In Florian Hinkelmann und Sebastian Schön fallen zwei Stammkräfte für längere Zeit verletzt aus. 

Perspektivisch planen sie nicht nur in Remscheid sogar den Sprung in die 3. Liga, sondern auch beim OSC Rheinhausen – dem vor ein paar Monaten zudem die spektakulärste Verpflichtung aller Regionalligisten gelang: Die Nummer eins zwischen den Pfosten ist jetzt Matthias „Matze“ Puhle, der noch in der vergangenen Saison ein Publikumsliebling des VfL Gummersbach war und der beste Torhüter in der 2. Bundesliga. Zumindest für die bevorstehende Serie äußern sich die Rheinhausener trotzdem zurückhaltend, zumal ihnen in Julian Kamp (nach Hirnblutung in der Reha) nicht irgendwer fehlt, sondern menschlich wie sportlich ein Herzstück der Mannschaft. „Wohl selten gab es so viele Unbekannte wie vor dieser Saison. Auf dem Papier sind Interaktiv, Korschenbroich, Remscheid, Aldekerk und Gelpe die Favoriten. Aber es wird eine Menge Überraschungen geben. Wir möchten gerne mit einem positiven Ergebnis in Neuss starten, wissen aber um die Schwere der Aufgabe. Neuss verfügt über viel Talent und Unbekümmertheit.“

Einer, der nie aufgibt: Tim Hartmann (links), hier in seinem letzten Siel für den Longericher SC am 23. Oktober 2020 bei den Bergischen Panthern (rechts Torhüter Robin Eigenbrod) bringt jede Menge Power und Leidenschaft zum HC Gelpe/Strombach. (Foto: Thomas Schmidt)

NHV-Coach Gilbert Lansen kann es kaum erwarten, dass sein junges Team nun endlich das erste Heimspiel seit einer halben Ewigkeit bestreitet. Die nur drei Begegnungen aus 2020/2021 waren allesamt Auswärts-Partien – und im Grunde ist selbst das Duell mit den Rheinhausenern kein echtes Heimspiel, weil die Neusser aus „ihrer“ Halle Hammfeld (noch Impfzentrum) in die Halle am Jahnstadion umziehen müssen. „Wir freuen uns sehr auf das Spiel“, erklärt Lansen, „wir haben viel Respekt vor Rheinhausen, die sich besonders auf der Torwart-Position gut verstärkt haben. Aber wir werden unsere eigenen Stärken Suchen – mit Tempospiel, einer guten Abwehr und einer guten Torhüterleistung.“ Die Vorbereitung lief aus seiner Sicht ganz gut, doch der Ausfall des Langzeitverletzten Daniel Zwarg im Rückraum trifft die Neusser hart. Positiv aus Trainer-Sicht: Die Mannschaft hat im Training und in Tests bereits gezeigt, dass sie die Lücke im Kollektiv ausfüllen will – und kann.

Dass der Neusser HV vor einem Jahr der Abstiegs-Kandidat Nummer eins war und nun als konkurrenzfähig gilt, macht die Regionalliga noch spannender, als sie es sowieso gewesen wäre. Wer welchen Standort beziehen kann/muss, dürfte am Samstagabend feststehen. Nicht teilnehmen am allgemeinen Aufbruch in die Regionalliga 2021/2022 werden nur der HC Weiden und die personell komplett umgebaute SG Langenfeld: Weil Langenfeld am Wochenende beim Final Four im Deutschen Amateurpokal beschäftigt ist, wurde die Partie auf den 26. Oktober verlegt.