11. Januar 2023 | Zurück zur Artikelübersicht » |
Im Fußball kostet die Verwendung dieses Satzes bereits einen Einsatz ins Phrasenschwein: „Es gibt keine Kleinen mehr.“ Gemeint ist die Tatsache, dass auch vermeintliche Außenseiter auf immer höherem Niveau spielen und damit öfter die Chance haben, einen klassischen Favoriten zu schlagen. Im Handball ist die Entwicklung hier noch etwas hinterher und wenn heute Abend die Weltmeisterschaft in Schweden und Polen beginnt, sind in den meisten Vorrunden-Partien die Rollen klar verteilt. Weil der Vereins-Handball in Deutschland gleichzeitig so stark ist, finden sich so auch immer mal wieder Spieler aus tieferen Ligen plötzlich im WM-Aufgebot ihres Heimatlandes wieder. Dass zum Beispiel die Brüder Patrick und Ian Hüter vom Zweitligisten TSV Bayer Dormagen für die USA auflaufen – keine Frage. Etwas beachtlicher sind schon die Nominierungen von Nick Braun (3. Liga/HSG Krefeld Niederrhein) für Belgien oder Ivo Santos (Regionalliga/Bergischer HC II) für die Kapverdischen Inseln. Dass aber auch der ASV SR Aachen aus der fünftklassigen Oberliga einen Spieler für das Großereignis des internationalen Handballs abstellt, hätte vor einem halben Jahr vermutlich niemand gedacht. Doch tatsächlich vertritt Simon Ignacio Aguilera Lintz ab heute in Polen nicht nur sein Heimatland Chile, sondern auch ein bisschen die Aachener und den ganzen Mittelrhein.
Wie ist das passiert? Der Verein um Trainer Cornelius Hesse hatte im Mai erst auf den allerletzten Drücker und nicht ganz ohne juristische Querelen den Klassenerhalt in der Oberliga geschafft. Der Coach wusste schon damals, dass die Vorbereitung wegen zusätzlicher personeller Abgänge schwierig werden würde. „Uns fehlen vier Leute aus der Start-Sechs vom letzten Jahr. Das ist nicht so ohne Weiteres zu kompensieren“, meinte Hesse im August. Wie so oft im Mannschaftssport half der Zufall etwas nach: Der Chilene Fernando Oliva Cifuentes, der bereits bei den Aachenern aktiv war, brachte zwei Freunde mit in die Halle an der Neuköllner Straße: Diego Felipe Arancibia Diaz und Simon Ignacio Aguilera Lintz. Die Südamerikaner landeten über eine private Sportakademie im niederländischen Sittard. Partner im Handball ist dort der zweitklassige Verein Vlug en Lenig. Weil das sportliche Niveau in Deutschland allerdings höher und Aachen nicht weit weg ist, initiierten die Niederländer und der ASV eine vorsichtige Kooperation. In der Folge spielen nun drei Chilenen in der Oberliga Mittelrhein und sie sind nicht unwesentlich daran beteiligt, dass die Aachener mit 13:17 Punkten nach der Hinrunde voll im eigenen Zielkorridor liegen.
Aguilera Lintz selbst kam für deutsche Verhältnisse spät zum Handball und machte seine ersten Würfe mit 16 Jahren im Club Balomano Saint Rose. Trotz der geringen Leistungsdichte: Ein bisschen Talent brachte der Rückraumspieler offenbar mit, denn bereits mit 17 nahm er an ersten Jugend-Nationalmannschafts-Turnieren teil und war seitdem in Chile erfolgreich. Mit 24 Jahren kam dann im Sommer 2022 über Oliva Cifuentes der Kontakt nach Sittard und Aachen zustande – wo sich Aguilera Lintz offenbar wohlwühlt. „Ich mag Deutschland und seine Kultur sehr. Es ist ein sehr schönes Land mit viel Geschichte“, sagt der Chilene, der sich wie seine Landsleute mit den deutschen Kollegen vorrangig noch auf Englisch unterhält. Über den Zusammenhalt im Team ist Trainer Hesse trotzdem begeistert: „Es ist geil, wie die Jungs in der Mannschaft aufgenommen wurden. Und jeder hat sich riesig gefreut, als Simon den Anruf vom Nationaltrainer bekommen hat.“
Tatsächlich verfolgen Aguilera Lintz – seit Oktober 25 Jahre alt – und Kollege Arancibia Diaz derzeit noch vorrangig ihre Handball-Karrieren. Das Trainingszentrum in Sittard ermöglicht zusätzliche Einheiten neben dem, was ein deutscher Oberligist den Chilenen bieten kann. Ob es noch einmal für den Wechsel in eine höhere Liga reicht? „Die Wahrheit ist, dass ich 25 Jahre alt bin und mein Fokus immer noch auf dem Handball liegt. Aber ich muss auch einen Weg finden, mich finanziell zu unterstützen. Ich denke darüber nach, in Europa zu bleiben, obwohl ich noch nicht weiß, welche Angebote ich bekommen könnte. Aber ich würde wirklich gerne in Deutschland bleiben und die Sprache lernen“, sagt Aguilera Lintz. Für den Moment ist die höchste Spielklasse im Mittelrhein der Gradmesser. „Ich habe das Gefühl, dass es viele Mannschaften gibt, die Potenzial und ein hohes Niveau haben“, findet der Südamerikaner, der mit seiner eignen Bilanz bisher nicht richtig glücklich ist: „Ich bin nicht wirklich zufrieden, weil ich das Gefühl habe, dass ich viel mehr geben kann als das, was ich bisher gezeigt habe.“ Immerhin: 69 Tore in 13 Spielen bedeuten nach Abschluss der Hinrunde Platz 15 in der offiziellen Torschützenliste.
Wofür es bei der WM reichen kann, wo die chilenische Mannschaft in der Vorrunde in Krakau antritt? Top-Favorit in der Gruppe A ist auf jeden Fall Spanien und das Duell am kommenden Samstag (18 Uhr) vermutlich das Highlight. Gegen den Iran (Donnerstag/18 Uhr) und Montenegro (Montag/20.30 Uhr) sind die Südamerikaner sicherlich nicht chancenlos und das Erreichen der Zwischenrunde ist wohl durchaus möglich. Trotzdem zeigt sich Aguilera Lintz bescheiden: „Unser Ziel ist es, so weit wie möglich zu kommen und dabei auch die von unserem Trainer vorgegebenen neuen Richtlinien umzusetzen. Ich hoffe, dass ich so viel Wissen und Erfahrung wie möglich sammeln kann, um es mit dem ASV SR Aachen zu teilen.“ Bei seinem Verein werden sie das gerne hören und die Spiele vermutlich auch live verfolgen. „Wir machen daraus keine Pflichtveranstaltung, aber ich gehe davon aus, dass die Mannschaft das von selbst organisieren wird“, berichtet Hesse, der nun natürlich ein ganz besonderes Problem hat. Vor dem Rückrunden-Start gegen den TuS 82 Opladen II am Samstag fehlen ihm zwei seiner wichtigsten Spieler, denn Arancibia Diaz ist ebenfalls mit in Polen, um seine Landsleute zu unterstützen. Der Oberligist ASV SR Aachen muss einen Spieler für die Weltmeisterschaft abstellen. „Es ist schon geil, sowas sagen zu dürfen“, meint Hesse. Vielleicht gibt es dann ja ab und zu doch noch einen „Kleinen“. Ganz ohne Phrasenschwein.